Just do it

ARA Breisgau: 600 Kilometer     Freiburg, 6. Juli 2015, 8:00 Uhr


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Die Unerschütterlichkeit einer in zahllosen Nachtsitzungen gereiften Kanzlerin und ihres unverwüstlichen Finanzministers, gegen alle Bedenken aus gewissen Kreisen der Bevölkerung ihre Kollegen aus der G7 für dreihundertfünfzig Millionen Euro nach Schloss Elmau einzuladen - aus Steuergeldern, versteht sich - könnte wegweisend sein. Das Ausmaß der gegenwärtigen Krise verlangt zweifellos einen angemessenen Rahmen, um sich über weitere Finanzhilfen für die verschwendungssüchtigen Griechen die Köpfe zu zerbrechen und, wie wir annehmen dürfen, Visionäres zu Tage fördern. Doch was wir allenthalben erleben müssen, sind Bedenken, Missgunst und Undankbarkeit: dort bekommen die Griechen in edelster Absicht Rettungsprogramme angeboten, die natürlich ihren Preis haben - ohne eine gewisse Verelendung breiter Bevölkerungsschichten können die Banken in diesen schweren Zeiten ihre Boni kaum in gewohnter Höhe auszahlen - und schon geht das Gepolter los. Und hier organisiert unsere Kanzlerin ein Kreativwochenende für ihre Freunde in der bayerischen Abgeschiedenheit, und schon gehen die Leute protestierend auf die Straße, anstatt vertrauensvoll und zuversichtich nach vorn zu schauen wie die politische Elite unseres Landes. Visionen und Taten: ist nicht gerade Schloss Elmau ein bewegender Beweis dafür? Wenn die Rückzahlung der Kredite daran geknüpft wäre, dass unsere Kanzlerin statt dessen mit uns ein 600-Kilometer-Brevet fahren müsste, würde sie auch das hinbekommen. Als Skifahrerin hat sie ja bereits für Furore gesorgt. Und ihr Finanzminister würde es sich nicht nehmen lassen, auf seinem Human Powered Vehicle zumindest dreihundert Kilometer zu rollen, wenn es dem Zweck dienen würde, den an sich zügellosen Griechen zum Kniefall vor den kreditgebenden Instituten zu bewegen. "Just do it!" stünde auf seinem Trikot, gesponsert vom IWF und der EZB. Im Grunde ist er einer von uns: hart zu sich selbst und noch härter zu anderen - was man den Brevetorganisatoren auch bisweilen nachsagt. Und wie diese weiß auch er: es wird schon nicht so schlimm werden.

am RheinJust do it: das ist es, was den Randonneur auszeichnet und dem heutigen Menschen fehlt. Und am liebsten würden wir anstelle des Jura-Brevets nach Griechenland fahren, um die Botschaft zu verkünden. Stellt euch nicht so an, wenn ihr die nächsten tausend Jahre Kredite zurückzahlen müsst! So wisst ihr wenigstens, wohin mit eurem Geld, falls mal was übrig bleibt, und kommt nicht auf dumme Gedanken. Aber der Ordnung halber bleiben wir bei unserem eigenen visionären Programm: die Schleife durchs Jura mit ihren 600 Kilometern. Ist zwar nicht so weit wie nach Griechenland, aber auch schon ganz ordentlich. Und heiß soll es auch hier werden.

Die ersten hundert Kilometer sind auch wirklich nicht der Rede wert, selbst wenn der Wind im Rheintal von vorne bläst. Und die paar Hügel, die sich querstellen auf unserem Weg ins Jura, bügeln wir glatt weg. Große Zuversicht trägt mich, als jagte ich Seit' an Seit' mit dem Finanzminister durchs Sundgau. Vergessen ist die Sorge, wie mein Körper auf die Herausforderung reagiert, nachdem mir die letzten fünf Wochen eine Gastritis mein Leben ordentlich vermasselt hat. Nicht einmal zur Teilnahme am Vierhunderter konnte ich mich durchringen, aber in dieser Zeit ließen sich ja kaum hundert Meter beschwerdefrei am Stück fahren. Immerhin habe ich daraus gelernt: In einem ersten Schritt habe ich in den vergangenen Wochen mehr Kamillentee getrunken als in meinem gesamten Leben zusammengenommen. Eine schwierige Zeit, aber dafür ist der Randonneur ja Fachmann. Mein Magen hat sich erholt. Jedenfalls so weit, dass ich mich zu einem zweiten Schritt in der Lage sehe: das letzte Brevet im Breisgau zu fahren. Und ganz in diesem Sinne begann dieser Morgen im Freiburger Augustiner dann auch ohne Folgen vorabendlicher Exzesse, wie sie in meinem früheren Leben gelegentlich vorgekommen waren. Statt dessen gab es einen Protonenpumpenhemmer und ein paar Tassen Schwarztee. Es würde schon werden. Pause in PorrentruyVon der Kanzlerin lernen heißt, sich vor Herausforderungen nicht wegzuducken. Jedenfalls nicht so, dass es jeder sofort merkt. Sonst kämen wir an einem Wochenende wie diesem niemals weiter als zur nächsten Taverne. Aber kaum dass wir uns warm gekurbelt haben, holen wir unseren ersten Stempel in Porrentruy bei Kilometer 116.

Nun wäre es natürlich wünschenswert, dass es so weiterginge. Doch bereits am Col de Montvoie, kurz hinter Porrentruy, reift die Erkenntnis, dass der Geist zwar willig, das Fleisch aber noch schwächer als sonst ist. Die Beine machen mir schon beim ersten richtigen Anstieg Kummer wie zwei ungezogene Kinder. Unser Finanzminister, Verhandlungsprofi im griechischen Schuldenstreit und Experte für griechische Lebenskunst, fände sicherlich die richtigen Worte, um sie zur Besinnung zu bringen. Was mir nicht vergönnt ist. Trotzdem finde ich auf der Passhöhe wieder Anschluss und in einer kleinen Gruppe folgen wir dem Verlauf des Doubs, der in saftiges Grün eingebettet ist. Grün ist die Farbe der Hoffnung. Wir erreichen Saint Hippolyte. Das erste Viertel des Unternehmens ist geschafft. Die Fahrer fliehen vor der Mittagshitze in den Schatten eines Straßencafés und ich setze mich für ein Panaché dazu. Bei Bier und Cola bereiten sie sich mental auf den nächsten Abschnitt vor. Brevetfahren ist, wie jede andere Herausforderung auch, Kopfsache. Das müsste unser Finanzminister bei Gelegenheit den Griechen klar machen. Der Wirt ist, wie die Troika, etwas überfordert vom Durcheinander der Wünsche seiner Kunden. Bevor auch er es mit dem Magen zu tun bekommt, begleichen wir unsere Zeche und brechen auf. Verglichen mit den Griechen sind wir da zugegebenermaßen besser dran.

Das Vallée du Dessoubre präsentiert sich so zauberhaft, dass ich für längere Zeit alle Scherereien vergesse, die ein 600-Kilometer-Brevet mit sich bringt. Erst im Anstieg nach Orgeans und weiter nach Maîche nimmt die Einsicht wieder überhand, dass das Radfahren mit zunehmender Entfernung vom heimischen Breisgau nicht einfacher wird. Die Straßen streben ebenso wie die Temperaturkurve steil nach oben. Mein Tatendrang strebt steil nach unten. Aber noch habe ich ein paar Leidensgefährten in meiner Nähe. Am Ortsende von Maîche stoppen wir an einem Supermarkt. Während ich meine Melone schlürfe, gibt ein Kollege neben mir seine Absicht bekannt, den Bettel hinzuschmeißen. Und das, obwohl er noch aufrecht sitzen und klare Sätze formulieren kann. Mit dieser Einstellung brächte er es unter der Kanzlerin höchstens bis zum Hinterbänkler. Zurück auf der D 464 sehe ich hie und da noch vertraute Hinterräder. Dann aber, als sich die Straße zu einem neuerlichen Anstieg anschickt, entschwinden diese in der Ferne. Die Bewältigung der verbleibenden 420 Kilometer erscheint mir so unmöglich wie die Rückzahlung der griechischen Kredite. Wann hatte ich zuletzt dieses Gefühl, dass es mir angesichts der vor mir liegenden Aufgaben kalt über den Rücken lief? Mich überkommen solidarische Gefühle für die bedauernswerten Griechen.

Pause in La-Chaux-de-FondsDie Straße nach Chaux-de-Fonds windet sich in vielen Kehren aus dem Doubstal nach oben, führt an Felswänden entlang und durch Tunnels hindurch. In der nachmittäglichen Schwüle kommt mir ein Grasstreifen wie gerufen, um von einem Moment zum anderen kraftlos zusammenzusacken. Für eine halbe Stunde falle ich in einen merkwürdigen Dämmerzustand. Ich denke nichts mehr und tue nichts mehr. Eine Totalverweigerung.

In Begleitung eines erfahrenen Routiniers - mit seinem Hang zum Hedonismus allerdings ein eher fragwürdiger Geselle - erreiche ich am frühen Abend Chaux-de-Fonds, Kilometer 200. Wir gehen erst einmal essen. Danach, so mein Plan, werde ich mich zusammenreißen.

Vue des Alpes, Kilometer 210, dritte Kontrolle: mehrere Kollegen sitzen an den Tischen des Restaurants und hadern mit dem Leben auf der Straße. Sturzpech. Magenprobleme. Erschöpfung. Aufgeben oder weiterfahren? Alle ermutigenden Impulse, die die G7 von Schloss Elmau aus in die Welt zu senden gedenkt, sind im Jura noch nicht angekommen. Leider steht das Human Powered Vehicle unseres geschätzten Finanzministers im Voralpenland und nicht auf dieser windigen Terrasse auf knapp 1300 Metern. Er wäre - als einer von uns - der Einzige, der das Ruder noch rumreißen könnte. "Habt ihr hart und ehrbar gearbeitet, um in dieser schwierigen Phase eures Lebens zu bestehen?", würde er uns anherrschen. "Nein...", würden wir reumütig murmeln und alle Exzesse meines früheren Lebens kämen mir wieder zu Bewusstsein. "Warum soll es euch dann besser gehen als den Griechen?", wären seine nächsten Worte, "Das Leben ist kein Ponyhof. Zack, zack, an die Arbeit!" Er wirft sich in die Brust und die Schrift auf seinem Trikot leuchtet im letzten Abendlicht. Männer wie er fehlen der Szene. Ich greife nach meinem Rad und verlasse diesen Ort des Schreckens.Abfahrt von Vue-des-Alpes

Als ich nach insgesamt 265 Kilometern Pontarlier erreiche, ist es bereits Nacht. Leute sitzen in der lauen Abendluft vor den Cafés und ich steige wieder aus dem Sattel. Wieder einmal streiken die Beine. Und der Kopf. Man fragt mich, was es mit den merkwürdigen Gestalten auf sich habe, die hier nächtens vorbeirauschen. Und schon fange ich an, die Langstrecke zu glorifizieren. Was dazu führt, dass ich keine Wahl habe, als so zu tun, als könnte ich es kaum erwarten, aufs Rad zu steigen. Lieber würde ich mir einen Ouzo bestellen. Im Herzen sind wir alle Griechen.

Auf dem Weg nach Champagnole, dem Wendepunkt, trägt mich ein Wind von hinten. Trotzdem fällt mir ein Stein vom Herzen, als neben der einsamen Straße endlich das Ortsschild vor mir auftaucht - was ziemlich lächerlich ist angesichts der Strecke, die noch vor mir liegt. Ich umfahre das Zentrum. Kaum dass mich wieder das Dunkel der Nacht einhüllt, scheuchen mich die ersten Regentropfen in eine Bushaltestelle - ein willkommener Vorwand für eine Schlafpause, obwohl es erst eine gute Stunde nach Mitternacht ist. Das sanfte Plätschern des Schauers gibt mir die Gewissheit, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Es hört sich an, wie Meeresrauschen an griechischen Stränden.

der lange Weg zurückNach zwei Stunden ist das Meeresrauschen vorbei. Ich stopfe eine Schale Taboulet in mich hinein und hoffe ansonsten auf ein offenes Café in Ornans, sechzig Kilometer weiter. Die sonntäglichen Straßen sind gezeichnet von den Folgen eines heftigen Gewitters - abgerissene Äste säumen die Straßenränder, immer wieder muss ich knöcheltiefen Pfützen ausweichen. Es ist kalt, was ich jedoch erst nach und nach daran merke, dass mir der Rotz in Strömen aus der Nase läuft. Viel zu spät ziehe ich meine Jacke über. In Ornans ist alles tot. Die Türen der Cafés sind verrammelt. Ich treibe meinen ausgemergelten Leib weiter vor mir her, bis zur Bäckerei in Gonsans, der fünften Kontrolle - viele zähe Kilometer bergauf und nur wenige bergab. Über der Bäckerei lacht bereits die Sonne wieder tückisch am Himmel. Noch zweihundert Kilometer, denke ich apathisch, während ich an meinem Croissant nage. Es trifft eine Vierergruppe ein, die ich als äußerst diszipliniert kenne und weit vor mir glaubte. Auch sie haben sich vor dem Unwetter in Sicherheit gebracht, vier lange Stunden. Ganz offensichtlich sind nun alle Dämme gebrochen und die griechische Zügellosigkeit hat auch vom Kern der Randonneure Besitz ergriffen. Ich schließe mich ihnen an.Bäckerein in Gonsans

In Vesoul, 150 Kilometer vor dem Finale, geht es mir wie einem griechischen Rentner nach der siebten Rentenkürzung: ich stehe kurz vor dem Exitus. Nachdem ich mein zweites Frühstück am Bahnhof hinuntergewürgt habe, schleiche ich als Einzelner davon, bitte die Kollegen, keine weitere Rücksicht auf mich zu nehmen. Der Tod auf dem Asphalt ist nicht der schlechteste. Man wird menschenscheu, wenn einen die letzten Kräfte verlassen. Man lässt sich gehen. Stößt Flüche aus gegen den Dreckswind, der uns auch heute wieder ins Gesicht bläst. kurz vor der deutschen GrenzeTrotzdem finden wir wieder zusammen, schleppen uns von Pause zu Pause, vereint im Leiden. Vereint mit allen Leidenden dieser Welt, zuvorderst den Griechen.

Als wir am Ende Freiburg erreichen, kann ich es kaum glauben. Soweit ist nun alles in Ordnung, auch wenn wir weit unter unseren Möglichkeiten geblieben sind. Meinem Magen geht es gut. Das Unterfangen allerdings war schlimmer als befürchtet, viel schlimmer. Die Leichtigkeit des Brevetfahrens ist weg. Die Krise ist da. Wahrscheinlich brauche ich professionelle Beratung. Ansonsten halte ich es für geboten, all unsere Anstrengungen darauf zu richten, den Finanzminister für die Schirmherrschaft der Randonneure zu gewinnen. Er wäre der richtige Mann mit den richtigen Impulsen: Just do it. Demnächst, so hört man, sollen die Trikots aus seinem Hause in Serie gehen. Der Erlös für handsignierte Unikate werde zu 100 Prozent an den Europäischen Bankenrettungsschirm gehen.

Strecke:

614 km

Höhendifferenz:

6000 hm

Fahrzeit:

25:47 h

Schnitt:

23,8 km/h

Gesamtzeit:

35:15 h

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