Radfahren in Rom

Luigi sieht uns und grinst uns an, hebt die rechte Hand zum stürmischen Gruß, während er linker Hand sein nervöses Klapprad durch den Verkehr steuert. Man muss wissen, dass Luigi sein Rad auf der falschen Seite der Straße vorantreibt, mitten durch den Feierabendverkehr Roms. Er macht es meisterhaft und mit einem Vergnügen, das wir, mit jeweils zwei Gepäcktaschen beladen, inmitten der genervten Autofahrer nicht ganz nachempfinden können. Er ist der erste Radfahrer, den ich, vom Bahnhof Trastevere kommend, an diesem Tag in Rom wahrnehme.

Dann kommt Anna. Sie fährt uns mit ihrem alten 5-Gang-Rennrad von hinten auf, tritt in die Pedale wie vom Teufel geritten. Ihr "Ciao!" klingt wie eine Aufforderung, uns von diesem Chaos nicht verrückt machen zu lassen. In der Anonymität Roms sind Radfahrer wie eine Familie, scheint mir. Die hübsche Anna taucht zwischen zwei, drei Autos unter und man wünscht sich, die Familie würde für einen Moment zusammenbleiben. Dann sehen wir sie wieder, weiter vorn an der Ampel, die für römische Radfahrer bedeutungslos ist. Allenfalls die motorisierten Fahrer ordnen sich ihrem Diktum unter, und das sichtlich widerwillig und auch nicht ausnahmslos. Anna, die vielleicht regelmäßig hier fährt, hat wahrscheinlich noch nie bemerkt, dass der Verkehr auf der Kreuzung, über die sie prescht, irgendwelchen Regeln unterliegt. Sie hat sich die Stadt auf ihre Art zu eigen gemacht und die Unbeschwertheit, mit der sie durch die Staßen fegt, ist selbst für römische Verhältnisse weit überdurchschnittlich. Der gemeine Autofahrer - für gewöhnlich im Stau stehend -  wirkt dagegen wie ein armer Tropf, dem nichts anderes bleibt, als seinem Verdruss über die erzwungene Immobilität mittels seiner Hupe Ausdruck zu verleihen. Er macht dies sehr theatralisch und ich habe die Vermutung, dass er seine Rolle nicht nur gut, sondern auch ganz gerne spielt. Zudem genießt er den kurzen Moment der Aufmerksamkeit, die wir ihm schenken, während wir an ihm vorbeiziehen.

Wir haben Anna aus den Augen verloren, auch von Luigi werden wir wohl nie wieder etwas hören. In Wirklichkeit heißen die beiden sicher ganz anders, aber ihre richtigen Namen tun wenig zur Sache. Kürzlich kamen sie mir wieder in den Sinn, als ich in einer knappen Zeitungsmeldung davon las, wie römische Radfahrer zur Selbsthilfe gegriffen haben. In einer nächtlichen Aktion wurden von Aktivisten in einem Tunnel kurzerhand Radstreifen aufgesprüht und Radschilder aufgestellt. Immerhin drei Tage lang hatte dieser beherzte Eingriff Bestand. Verantwortlich für die Sache war eine Gruppierung namens salvaiciclisti. Ich denke, Luigi und Anna sind dort gut bekannt.

Wir sind übrigens weiter bis zum Campingplatz jenseits des Vatikans gefahren und haben uns dabei überhaupt nicht amüsiert. Dies brachte mich noch am selben Abend zur Überzeugung, dass eine Stadtrundfahrt mit Luigi und Anna weit mehr Erkenntnisgewinn bringen würde als ein Besuch der Ufficien. Konsequenterweise sind wir dort am nächsten Tag gleich schon mal gar nicht hin. Was die Stadtrundfahrt anbelangt, werde ich mir das nochmals durch den Kopf gehen lassen, jetzt, da ich weiß, wo man Leute vom Schlage dieser beiden finden kann.

Februar 2015