Winterhimmel

Die dunkle Jahreszeit: wie Wasser auf der heißen Herdplatte verdampft, so lösen sich zwischen November und Februar die frostigen Tage im Nichts auf, kaum dass man den ersten Gedanken an die längst überfällige Siesta beiseite gewischt hat. Ein Hauch des ewigen Dunkels des Universums legt sich ab dem frühen Nachmittag über unsere kleine wohltemperierte Welt, zu einer Zeit, wo man sich im Sommer gerade anschickt, die Radschuhe überzustreifen und die Trinkflaschen zu füllen. Was mir lange verborgen blieb, ist der Umstand, dass man in dieser Jahreszeit keine Sterne sieht: sie fallen der Kälte zum Opfer, die uns eilig durch die Straßen treibt. Kein Blick nach oben. Die Aufmerksamkeit gilt den versteckten Eisplatten und den matschigen Wegen. In den Städten wird das Dunkel überstrahlt von den Straßenlaternen und der Weihnachtsbeleuchtung: hübsch anzusehen, das allemal.

Die klare Luft einer Winternacht wirkt wie ein Zauber, wenn man die Stadt hinter sich lässt und die Straße wie kalter Stahl unter einem durchzieht. Man stelle sich vor, es sei Heiligabend: der Verkehr ist zum Erliegen gekommen, die Geschäfte haben längst geschlossen. Mutterseelenallein bewegt man sich in dieser Welt. Durch die Ortschaften wabert hie und da fettgeschwängerter Bratenduft. Aus den Dorfkirchen am Wegesrand dringen dumpf die Weihnachtslieder des örtlichen Musikvereins. Klänge, die in der Kindheit die baldige Bescherung ankündigten: ein Paar Skier aus Holz oder die lang ersehnte Armbanduhr. Man strahlte vor Glück, auch wenn es nie lange anhielt. Bis heute frage ich mich nach dem Wesen des Glücks.

Man stelle sich vor, man wäre unterwegs zu seinen Nächsten. Unter der Anstrengung des Tretens pocht das Herz - Schläge, die durch die Nacht wummern. Der Blick zum Himmel: ungezählt die Sterne am Firmament. Man überlegt sich, ob es wirklich einen Schöpfer geben kann, der all dies geschaffen haben könnte. Das wäre verdammt viel Arbeit. Und dann noch einen Sohn zeugen, der heute Abend in bester Absicht besungen wird. Es sind flüchtige Gedankenspiele, die ebenso aufblitzen wie diese Millionen Planeten im unendlichen All. Jeder Gedanke, der einen je bewegt hat, schwebt über einem wie dieses unbegreifliche Lichtermeer. Es gibt große Momente inmitten der Einsamkeit des mondlosen Winterhimmels, erfüllt vom Glanz der Sterne, vom Pulsieren des Herzens. Fernes Glockengeläut. Und man wagt eine vorsichtige Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Glücks.

Zu später Stunde ist es dann soweit. Längst sitzen die Familien hinter zugezogenen Vorhängen um den gedeckten Tisch am liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum. Man steigt vom Rad. Zögert, den Zauber des Winterhimmels einzutauschen gegen die familiäre Betriebsamkeit. Spürt endlich die Schwere der Beine, die Kälte in den Füßen. Man stelle sich vor, wie man die, um derentwillen man fünf oder sechs eisige Stunden auf dem Rad zugebracht hat, an sich drückt. Und wagt noch einmal eine vorsichtige Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Glücks.

Januar 2011