Giganten der Provence 2010


Nîmes - Bédoin

Für die Zugfahrt von Mulhouse nach Nîmes ziehe ich ein Buch aus meiner Lenkertasche, das ich irgendwo hinten im häuslichen Bücherregal hervorgekramt habe: George Navels 1945 erschienenes Werk Travaux (Arbeit - die deutsche Ausgabe ist vergriffen). Während der TGV nun durch die Vororte von Lyon rast, deren Fabriken das Dekor für die Schilderungen aus der düsteren Welt des Arbeiterdaseins in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts liefern, versuche ich, mir die glutheißen Gießereien und die sinistren, rußgeschwärzten Produktionshallen auszumalen, in denen vor fast hundert Jahren die Männer ihr schmales, kaum zum Überleben reichendes Gehalt verdienten. Der einzige Trost des Daseins war für Navel die Aussicht auf den Sonntag: die Flucht aus dem ohrenbetäubenden Lärm der Fabriken, aus dem Grau der Städte in die Stille der Natur, wo die Lungen frei atmen und die marode Seele neue Kraft tanken kann.

Bédoin - La Palud

Wenn man im Hochsommer morgens mit dem Rad durch Bédoin fährt, meint man, über alle Poren dieses Vibrieren aufzunehmen, das eine Stadt ausmacht, die von Radfahrern belagert wird. Noch sitzen die meisten in den Cafés bei Croissants und Milchkaffee, stehen am Straßenrand, ihre Ketten ölend oder die Beinmuskulatur. Es ist kein besonderer Tag heute, ein gewöhnlicher Freitag in der französischen Provence während der Urlaubszeit. Die Morgensonne hängt just über jener Straße, die nach oben führen wird, ins Reich des Leidens, ins Reich des Triumphierens.

La Palud - Isola

Den Campingplatzbesitzer lerne ich morgens näher kennen. Seit 30 Jahre führt er hier die Geschäfte, macht alles Notwendige. Ob er die Welt je aus einer anderen Perspektive gesehen hat als von diesem Ort aus, der auf 900 Metern liegt, ein paar lausige Kilometer entfernt von den Stellen, wo sich jenseits der schmalen Geländer der Fels schier unendlich in die Tiefe stürzt? Warum sollte er, wo doch die Welt zu ihm kommt. Ich erzähle ihm, dass ich heute abend gerne in Isola Station machen möchte. Isola? Ah, oui, le Mercantour...

Isola - Briançon

Wie ich meine gefüllten Gepäcktaschen ans Rad hänge, wird mir doch etwas mulmig zumute. Knapp 2000 Höhenmeter geht es von diesem Platz weg bergan bis zur Cime de la Bonette. Ich frage mich, ob ich nicht besser daran getan hätte, wenigstens das Kochgeschirr zuhause zu lassen, auch wenn die Zeit, wo abends vor dem Zelt die Pasta köchelt, mit zur schönsten eines jeden Tages zählt.

Briançon - Grenoble

Das Frühstück auf der Terrasse der Rezeption bestärkt mich darin, beim nächsten Mal auf mein Kochgeschirr zu verzichten: für 6.50 Euro erhalte ich eine solide Grundlage für den Tag und obendrein ein großartiges Panorama in der Morgensonne. Dann geht's zurück auf die Straße. In der Nacht hat es geregnet und die Luft hat deutlich abgekühlt, die Hochsommerstimmung des gestrigen Tages hat sich verabschiedet, schwere Wolken hängen über dem Tal, das hoch zum Col du Lautaret führt.