Isola - Briançon

Sonntag, 1. August 2010  


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Wie ich meine gefüllten Gepäcktaschen ans Rad hänge, wird mir doch etwas mulmig zumute. Knapp 2000 Höhenmeter geht es von diesem Platz weg bergan bis zur Cime de la Bonette. Ich frage mich, ob ich nicht besser daran getan hätte, wenigstens das Kochgeschirr zuhause zu lassen, auch wenn die Zeit, wo abends vor dem Zelt die Pasta köchelt, mit zur schönsten eines jeden Tages zählt. Hinzu kommt: hat man erst einmal für genügend Stauraum gesorgt, ist das geringste Problem, diesen auch bis zur Neige auszuschöpfen. Auf einen simplen Nenner gebracht lautet die Frage: loslassen oder klammern? Loslassen ist eindeutig schwieriger. Besonders eindrucksvoll wird dies von Wohnmobilisten vor Augen geführt, die an ihrem Monstrum noch Motorräder, Surfbretter und sonst was hängen haben. Aber die schieben ihren Möbelwagen ja auch nicht von Hand auf die Pässe.Tal der Tinée

So also gleitet meine Fuhre das Tal der Tinée lang. Der Anstieg ist kaum der Rede wert, so dass sich die überflüssigen Pfunde während dieses Vorspiels kaum bemerkbar machen. Das Szenario am Himmel ist perfekt: kaum ein störendes Wölkchen schiebt sich vor das intensive Blau, das über dem Tal leuchtet. Während ich mit meiner Sonnencreme hantiere, ziehen munteren Tritts vier Franzosen an mir vorbei. Sie scheinen ortskundig zu sein, und so setze ich mich auf ihre Fährte, bis sie in St. Etienne-de-Tinée ihrerseits einen Stopp einlegen. Am Ortsende sind wir wieder zusammen: sie haben die Abkürzung quer durch den Ort genommen. Wir kommen ins Gespräch und die zunehmend steileren Passagen verlieren dadurch ihren Schrecken. Dominique, einer der vier, flucht über die Motorradfahrer und ihr "nichtsnutziges" Tun. Als Bewohner dieser Gegend, des Mercantour, steht ihm deren Lärm und Gestank sichtlich bis oben. Er hat Recht: die Metastasen dieses Geschwürs stoßen hier nicht weniger als im Schwarzwald an die Grenzen des Tolerierbaren. Im Laufe des Anstiegs unterbreitet er mir noch den Vorschlag, auf eine 4-wöchige Russlandtour zu gehen, deren Planung bereits steht. Ehe es aber konkret wird, ereilt ihn eine Reifenpanne. 

Ich fahre meinen Rhythmus weiter, nun alleine, bis einer der anderen drei, die etwas zurückgeblieben sind, zu mir aufschließt. Die nächste Gesprächsrunde wird eingeläutet. Mein Begleiter, der mit nacktem Oberkörper fährt, erzählt mir aus seiner Zeit als Bergsteiger, wie er auf siebentausend Meter, nur mit zwei Haken gesichert, die Nacht im Biwack verbracht habe. Radfahren sei dagegen ein Sport für Weicheier. Ich wage nicht, ihm zu widersprechen. Er kommt auf allgemeine Dinge und sein Eheleben im Besonderen zu sprechen und vertraut mir an, dass ihm, als Endfünfziger, doch sehr nach jungem Fleisch verlange und dass es ihn manchmal verrückt mache, all die attraktiven jungen Dinger zu sehen. Auf dem Col de la BonetteAls sich ein solches von hinten nähert, legt er einen Zacken zu und ist weg. Blick ins MercantourDie Zeit mit ihm war ausgesprochen kurzweilig. Zehn Minunten später, als wir die letzten Kilometer bis zum Gipfel bereits im Blick haben, rechtfertigt er sich: er habe das Mädel für Dominique gehalten und ihn ärgern wollen. Jedenfalls ist er nun ausgepumpt, das Mädel ist an ihm vorbeigezogen, und er hat sich entschieden, auf seine Kumpels zu warten.

Von der Passhöhe weg zieht sich eine Panoramaschleife rund um den Gipfel. Fährt man sie im Uhrzeigersinn, kann man nochmals alles in die Pedale legen, was an Reserven übrig ist: der Anstieg wartet mit 14 Prozent auf. Ich komme mir vor wie ein Kletterer in der Felswand, auf eine Kurbelumdrehung kommen geschätzte zwei Atemzüge. 

Fels und VegetationDie Sicht vom höchsten Punkt der Straße auf 2802 Meter über Meereshöhe ist einmal mehr berauschend. Es ist, als ob der Organismus, ausgepresst wie ein Schwamm, diese phantastische, gezackte, karge, mit Schneefeldern durchsetzte Bergwelt in sich aufsöge, während die Lungen sich nach und nach wieder beruhigen. Man steht und staunt, angefüllt mit einem Fluidum, das mit dem Begriff Natur nur unzureichend beschrieben ist. 

Kurz bevor ich wieder aufs Rad steige, kommt der letzte aus der Gruppe der Franzosen oben an. Ich stürze mich in die Abfahrt. Mir will scheinen, dass die Nordauffahrt noch eindrucksvoller, aber auch schwieriger ist als die Südrampe. Ich finde ein Schattenplätzchen für eine kurze Rast - es ist aber Sonntag und meine Vorräte des gestrigen Tages sind bescheiden. Ich werde mich später noch irgendwo verpflegen. In St. Paul-sur-Ubaye hätte ich dazu womöglich Gelegenheit, zumindest ein offenes Restaurant bietet dieser kleine Ort am Fuß des Col du Var. Allerdings steht auf den schattigen Tischen bereits überall Espresso, so dass ich annehme, dass die Küche bereits geschlossen hat. Ich begnüge mich mit frischem Wasser aus dem Dorfbrunnen und verschiebe meine Pause auf den Moment, wo ich über die Passhöhe rolle. die Rampen des col de Var

Die Temperatur ist auf deutlich über 40° gestiegen, so dass der Aufstieg, zumal an den zunehmend steileren Rampen, die durchaus zehn Prozent erreichen können, keine leichte Übung ist. Ich übe mich in Gelassenheit.

Oben angekommen, nehme ich mir auf der Terrasse der dortigen Kneipe die Zeit für eine Studie: den Abgleich der Auspuffformen den Motorräder mit ihren jeweiligen Besitzern. Es gibt runde, kantige, große, schmale Auspuffe, welche, die schräg nach oben verlaufen, und gänzlich unscheinbare. Ein nahezu obszönes Unterfangen. Jüngere Fahrer bevorzugen nach meinem Eindruck die schräg nach oben verlaufenden Modelle. Ich finde es sehr mutig, sich so zu exponieren. Um belastbare Ergebnisse zu erzielen, müsste man meinen ersten Eindruck allerdings statistisch unterfüttern.

Col de VarIn der Abfahrt erhalte ich Gesellschaft von einem holländischen Fahrer. Bei Tempo 50 unterhalten wir uns über meine Tour und seinen Urlaub. Morgens geht er mit seiner Freundin wandern, nachmittags geht er mit dem Rennrad auf Achse. In Guillestre biegt er ab zu seinem Campingplatz, während ich meinen Weg nach Briançon fortsetze, zunächst auf der Hauptstraße, ab la Roche-de-Rame auf Nebenstraßen.

Wieder einmal wird meine Prognose von der Wirklichkeit überrollt: mein Glaube, bis Briançon kaum mehr Höhenmeter zu machen, wird schwer erschüttert. Bei Vigneaux geht es noch einmal heftig nach oben. Ich zögere - wäre ich auf der Nationalstraße nicht womöglich besser aufgehoben? -, entscheide mich dann aber - zum Glück - doch für die Nebenstraßen. GuillestreMeine Beine wollen nicht mehr; sie haben genug. Ich habe das Glück, dass vor mir ein ebenfalls abgekämpfter Mountainbiker auf die Straße einbiegt, der noch müder ist als ich. Diese Motivationshilfe nütze ich schamlos aus.

War Guillestre mit Campingplätzen reichlich versorgt, verhält es sich in Briançon anders. Am Ortsende finde ich ein Hinweisschild, das mich noch einmal über Kilometer tief ins bergige Umland führt. Das ist nun wirklich die Höhe. Nicht ganz: sie ist erreicht, als ich erfahren muss, dass der Platz voll ist. Sch..., mit Verlaub. Die Besitzer erbarmen sich jedoch meiner und weisen mir noch einen Platz in einem Winkel zu, der mit Baumaterialien zugestellt ist. Ich willige ein. Ganz in der Nähe steht jedoch eine Picknickbank, die ich umgehend in Beschlag nehme. Der Blick ins Gebirge entschädigt für das Malheur. Immerhin das ist mir noch vergönnt. Aber so ganz will sich die Feierlaune, die nach dem heutigen Programm gerechtfertigt wäre, nicht einstellen. 

 

Strecke:

149 km

Zeit:

8:00 h

Schnitt:

18,6 km/h

Höhendifferenz:

3370 Hm

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