Freiburg - Etoy

Freitag, 22. März 2013   


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Das Bild des Radfahrers in der Öffentlichkeit ist bekanntermaßen gespalten. Während die einen ihn als den letzten Aufrechten im Kampf gegen die Autoflut achten, missbilligen ihn die anderen umso mehr als Störenfried im harmonischen Hin und Her der motorisierten Straßennutzer. Stärker noch gehen die Meinungen über die Randonneure auseinander - jener Sorte Menschen, die kraft ihrer Muskulatur ihren Körper in kürzerer Zeitspanne über viele Hundert Kilometer Landschaften transferieren und zu denen ich mich auch nach Jahren noch in aller Demut hinzurechne. Für die einen sind sie Helden der Landstraße. Die anderen - darunter auch Leute mit Einfluss - sind, wie ich aktuell aus verlässlichen Quellen erfahren musste, davon überzeugt, dass in Randonneurskreisen eine Einhaltung der Straßenverkehrsordnung weder vorliege noch gewünscht sei, dass es sich - mit anderen Worten - um Anarchisten handle, die Gesetze und Vorschriften sozusagen mit Füßen treten. Die Hell's Angels des Radsports.Start in Freiburg

Sensible Naturen wie ich kommen ob dieses vernichtenden Urteils ins Grübeln. Man kratzt sich am Hinterkopf und macht sich Gedanken darüber, ob man denn wirklich so kriminell ist, denn wo Rauch ist, ist ja bekanntlich auch ein Feuer. Es stimmt, dass ich in der Zone 30 in Einzelfällen überzogen habe oder am Zebrastreifen schon mal im Bogen um die Passanten gefahren bin, anstatt in die Eisen zu steigen. Ich habe, wenn ich's mir recht überlege, im Laufe der Jahrzehnte das eine oder andere Mal wahrscheinlich sogar vorsätzlich gegen die Radwegbenutzungspflicht verstoßen. Bei genauem Hinsehen fiele mir wahrscheinlich noch mehr ein. Ich will es gar nicht wissen. Die Tendenz zur Verrohung ist unverkennbar. Es ist Zeit für eine Umkehr.

Der Weg der Selbstanzeige ist - ohne das Risiko einer langjährigen Gefängnisstrafe einzugehen - ja im Allgemeinen nur jenen vorbehalten, die ihr Geld illegal in der Schweiz gebunkert haben; das Schwingen einer Geißel ist nicht mein Ding. Aber gerade in der gegenwärtigen Fastenzeit ist das Bedürfnis nach Läuterung besonders ausgeprägt und es stellt sich die Frage, ob unsere traditionnelle Mont-Ventoux-Tour, eine Woche vor Karfreitag, nicht der geeignete Weg wäre, das schwankende Schiff wieder auf Kurs zu bringen.

Schon immer ist es das Zeichen der Pilger und Büßer, ihren Leidensweg nur mit dem Nötigsten an Gepäck zu beschreiten. In diesem Punkt passen die beiden Radler, als solche wir uns an jenem Freitagnachmittag im letzen Märzdrittel 2013 im bewährten Team mit unseren wenigen Habseligkeiten von Freiburg aus in Richtung Süden in Bewegung setzen, durchaus ins Bild. Zwei Taschen, zwei Lenkertaschen- trotz der Beschränkung auf das Wesentliche ist eine Übernachtung im Hotel selbstredend tabu - das gebietet die Ernsthaftigkeit unserer Mission. Für einen echten Bußgang ist das Wetter noch zu mild : bei etwa 10 Grad fahren wir uns warm und nach langem meteorologischem Einheitsgrau scheint heute tatsächlich die Sonne. Der schwierigere Weg in die Schweiz über die Vorbergzone des Südschwarzwalds gleicht dieses Defizit jedoch wieder aus. auf dem Weg durch die Schweiz

Die erste Pause legen wir in Kandern ein. Der Kaffee und und die süßen Teilchen, die wir uns genehmigen, dienen dem alleinigen Zweck, unsere Leidensfähigkeit zu erhalten. Während wir uns wieder für die Weiterfahrt bereitmachen, werden wir von einem Passanten, nachdem er unsere Räder mit Interesse gemustert hatte, gefragt, wo es denn hingehen soll.
Südfrankreich, Mont Ventoux, lautet die wahrheitsgemäße Antwort.
Chapeau, sagt er, Chapeau! Wir mögen auch bitte gutes Wetter von dort unten mit nach Hause bringen. Ich vermute, wir dürfen ihn zu jener Kategorie rechnen, die nichts von unserer Verderbtheit weiß und uns für Helden der Landstraße hält.

nächtliche ImpressionenDie Schweiz zeigt sich von ihrer angenehmen Seite. Es ist noch hell, als wir Basel erreichen. Vom GPS-Gerät lassen wir uns durch das Straßengewirr leiten - die feine Dekadenz an diesem Umstand will ich gar nicht leugnen. Den Anstieg zum Hauenstein nimmt man noch mit einer gewissen Genugtuung auf sich: das Leiden ist wirklich kaum der Rede wert; auch die Temperaturen liegen noch immer knapp unter zehn Grad. Ein Geißel zu schwingen wäre erheblich unangenehmer. Überhaupt rollt es sich gut auf der B 12, der Wind kommt weitgehend von hinten, die Strecke ist relativ flach. Allein die Gewissheit, dass es so nicht weitergehen würde, vermag das Gewissen desjenigen zu beruhigen, dem nach Umkehr verlangt.

In Solothurn wird es Zeit für eine warme Mahlzeit. Die Stadt ist belebt wie an einem warmen Sommertag, warum auch immer. Ich fröstle, als ich gegen 21.15 Uhr nach einer halben Stunde Aufenthalt in einem Imbiss durch die Glastüren ins Freie trete. Wir haben vor, bis in die Nähe von Genf vorzustoßen und die knappe Hälfte des heutigen Pensums liegt hinter uns. Haben wir uns bis hierhin über geltende Gesetze hinweggesetzt? Nein. Ruhigen Gewissens nehmen wir die zweite Hälfte unserer heutigen Strecke unter die Räder.Solothurn

Der Neuchateller See hat aus der Ferne bei Nacht etwas Zauberhaftes: die Lichter an seinem Ufer spiegeln sich im Wasser wie tanzende Sterne. Unser Weg führt weiter nach Südwesten, kurz vor Lausanne hoch auf 870 Meter zum Col du Chalet a Gobet. Mitternacht ist längst vorbei, als wir im Zickzack durch die Straßen von Lausanne fahren. Die Ausblicke auf den Genfer See sind selten, was ich mit einer gewissen Gleichgültigkeit hinnehme, denn nun ist es die Müdigkeit, die mich zunehmend plagt. Echtes Leiden. Es fühlt sich großartig an.

Der Plan, morgen früh um acht in Genf einzurollen, hält mich noch für eine gute Weile am Laufen. Aber dann beginnt der Motor doch zu stottern und wir beschließen, uns zur Nacht zu betten. Ein Café im Gewerbegebiet von Etoy hat es uns besonders angetan. Die Außensitzfläche ist überdacht, der Boden mit einer Art Filzteppich ausgelegt. Natürlich ist es Privatgelände, auf das wir ungefragt unsere müden Häupter betten. Aber hätte wirklich jemand erwartet, dass unsere kriminelle Randonneursnatur im entscheidenden Moment nicht die Oberhand behält?

 

Strecke:

266 km

Zeit:

11:15 h

Schnitt:

23,6 km/h

Höhendifferenz:

2150 m

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