Freiburg - Seyssel

26. März 2014, 7 Uhr    


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Fast schon traditionell haben wir unsere Abfahrt wieder auf den Mittwoch gelegt. Früh um sieben Uhr erfolgt der Handschlag zur Begrüßung und der letzte Feinschliff am Gepäck. Dann bittet man einen Passanten, doch bitteschön ein nettes Foto von uns zu machen, während ringsum die Stadt zum Leben erwacht. Selbst zu dieser unbotmäßigen Zeit ist einiges an Volk unterwegs, das auf Rädern an uns vorbeisaust. Freiburg ist eine Radfahrerstadt, und wenn man verfolgt, mit welcher Selbstverständlichkeit sich gerade die Jungen heutzutage auf ihrem Zweirad bewegen, könnte man wieder einmal ob der vielen Annehmlichkeiten, die dieser Generation zuteil wird, neidisch werden: frühkindliche Sexualaufklärung per Internet, während unsereiner mit Gerüchten und Bravo vorlieb nehmen musste; Freundschaftspflege per Mausklick, während wir uns nächtelang einsam durch vergammelte Jugendzentren trinken mussten; und nun auch noch die Leichtigkeit des Radfahrens, während wir Stunde um Stunde an Bushaltestellen oder als Anhalter am Straßrand versauerten. Ohne jede Scheu steigen sie am hellichten Tag aufs Rad, egal was die Mädels denken. Die fahren selbst Rad. Wenn der Trend anhält - und vieles spricht dafür - werden in wenigen Jahren nur noch ein paar Parvenüs und abgeschiedene Landeier auf den Status pochen, der ihnen zusammen mit den günstigen Finanzierungsangeboten für ihr Auto versprochen wurde.

StartfotoNun würden wir Älteren tatsächlich dumm aus der Wäsche schauen, hätten wir unsere Lebensjahre nicht dafür genützt, einen kleinen Erfahrungsvorsprung herauszufahren, vor allem den, dass man mit einem Rad auch weiter fahren kann als von der Kneipe zur Uni oder von der Tanke zu Tanja. Vermutlich werden sie sich auf kurz oder lang an unsere Fersen heften - dieser Generation bleibt nichts verborgen. Noch aber sind wir ganz unter uns, als wir dann schließlich die Räder besteigen, um, wie schon in den Jahren zuvor, in die ferne Provence zu kurbeln. Irgendwann wird auch die Jugend dahinterkommen, dass man auf dem Rad nicht nur Sixpacks und Notebooks sicher transportieren kann, sondern auch Schlafsäcke, Zelte und Isomatten und selbstredend ein paar unentbehrliche Zivilklamotten. Aus ganz praktischen Gründen ist für die Fahrt ein Hosenschnitt zu bevorzugen, wo das Gesäß deutlich über den Kniekehlen endet, aber da hat jeder seine Erfahrungswerte. Trotzdem: ein guter Tipp kann nicht schaden.

Angesichts des blauen Himmels über uns entscheiden wir uns kurzfristig für die Route übers Jura, die wir noch gestern wegen der vorhergesagten Temperaturen um den Gefrierpunkt herum verworfen hatten, um statt dessen im Flachen durch die Schweiz zu rollen. Nun aber können wir dem Ruf der kleinen Bergsträßchen doch nicht widerstehen.

Wer Radfahren nur aus den Straßenschluchten der City kennt, wird erstaunt sein, wie schnell man diese hinter sich gebracht hat und sich die Landschaften öffnen. Die Schluchten kehren wieder, aber erst nachdem wir drei Stunden später weit hinter der Schweizer Grenze in Delémont eine erste Pizza verdrückt haben. Schülerbanden drängen sich schwatzend neben uns um die Imbisstheke. Die Zukunft der Schweiz: lärmende juvenile Adipositas, die sich Cola und Döner krallt. Sie sind vermutlich etwas retardiert, aber auch sie werden beizeiten auf den fahrenden Zug aufspringen. Bei der Vorstellung, dass sie schon in wenigen Jahren mit ihren Fixies formvollendet durch Delémont flitzen, möchte man die jungen Leute trotz aller Vorbehalte ans Herz drücken - was man angesichts der bereits eingesetzten Geruchsbildung aber lieber lässt, um sie nicht zu traumatisieren. Fürs Erste werden diese aufstrebenden jungen Menschen wohl eher ins heimische Spielzimmer zurückschlurfen und sich die Übergangszeit bis spät in die Nacht hinein an ihrer Spielkonsole vertreiben.

Gorges du Pichoux

Auch wir wenden uns alsbald wieder unseren eigenen Geschäften zu: die Gorges du Pichoux. Das Blau des Himmels über den Felswänden ist hinter einer Milchglasscheibe verblasst. Vereinzelt verirren sich Schneeflöckchen zu uns herunter. Solche Dinge nehme ich gelassen, seit ich mir vom letzten Weihnachtsgeld ein Paar ordentliche Winterschuhe gekauft habe. Das Jura ist wie immer spröde, es toleriert den Radfahrer, wenn er bereit ist, sich zu beweisen. Auf den Hochflächen begegnen wir geschlossenen Schneedecken, aber die Straßen bleiben frei. Auf dem Col de Pierre-Pertuis steht ein gutes Dutzend Heranwachsender auf ihren Mountainbikes im Schnee und trotzt der Kälte. In dieser Abgeschiedenheit üben sie schon mal für die Zukunft. Wir stürzen uns in die Abfahrt nach Sonceboz und folgen unter einer grauen Wolkendecke dem Tal nach St. Imier. Die wohlverdiente Pause am Supermarkt halten wir kurz.

Unsereiner ist mit den verschiedenen Levels eines virtuellen Abenteuerspiels gänzlich unvertraut und ahnt wahrscheinlich nicht einmal, mit welch enormen Durchhaltevermögen unsere Jugend gesegnet ist, die Stunde um Stunde der Vernichtung trotzt.Yverdon In ihren Augen müssen wir blass erscheinen, wie wir ohne sichtliche Erfolge weiter- und weiterfahren, bis wir, auf kleinen Wegen Neuchâtel vermeidend, knapp vor Ladenschluss Yverdon erreichen. Das Jura liegt tatsächlich schon hinter uns. Auf die Gefahr hin, gerade dem jugendlichen Leser nur ein müdes Lächeln zu entlocken, würde ich uns auf Level two setzen. Das feiern wir mit einem Milchkaffee in einer Bäckerei am Straßenrand. Man will gar nicht wissen, auf welchem Level sich unsere jugendlichen Freunde bereits befinden.

Wir werden dadurch zurückgeworfen, dass wir uns nach Yverdon in der Pampa verirren und in der Dämmerung etwas ziellos über kleine Feldwege rasen, die uns ein großer Suchmaschinenbetreiber im Vorfeld für den Weg nach Genf anempfohlen hat. Als Vertreter der Generation, die noch mit Landkarten groß geworden ist, wissen wir uns zu helfen. Wir schaffen es, Cossonay zu erreichen und im großen Bogen um Lausanne herum Aubonne, Rolle und Nyon - bis die Lichter von Genf den Nachthimmel überstrahlen. Der Weg in die Metropole wird von großen Pfützen gesäumt - ein Zeichen dafür, dass hier unten ordentlich Regen gefallen ist. der Himmel über GenfEin Glück: wir haben in den Hügeln oberhalb des Genfer Sees nur einen kleinen Schauer abbekommen.

Gegen halb elf Uhr rollen wir in Genf ein. Im Zentrum herrscht noch reger Betrieb und es macht keine Umstände, uns mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen. Mir scheint, dass wir uns bis hierhin ordentlich geschlagen haben, auch wenn wir nicht gegen Drachen, Monster und Killer angetreten sind. In den kurzen Minuten, die wir nun in irgendeinem Genfer Imbiss zubringen, starre ich immer wieder mit müden Augen durch die Scheibe des Etablissements auf die Straße, wo zwei bepackte, matt glänzende Räder in den vielfachen Lichtern der Stadt stehen und die Pause auf ihre eigene, geheimnisvolle Weise über sich ergehen lassen. Nach dreihundert Kilometern Tagespensum ist man vor lauter Erschöpfung mit sich allein. Nachtmahl in GenfDas Treiben um einen herum scheint einer anderen Welt zugehörig, mit der man allenfalls durch Schnittstellen wie einem Teller Pommes oder einer Cola Verbindung hält. Ein echter Gamer kann dies nachvollziehen. Ich bin davon überzeugt, dass solche Menschen beste Voraussetzungen mitbringen, wenn sie dereinst ins Lager der Randonneure wechseln.

Die Einsamkeit des Jura wird ersetzt durch die Einsamkeit der Nacht, die schützende Wärme der Gaststätte durch die Kälte in den Straßen. Mit steifen Beinen schwingen wir uns ein weiteres Mal auf unsere Räder und ins schnell verebbende Nachtleben am Genfer See. Wir sind wieder unter uns. Keine community, keine followers. Das muss man erst mal aushalten. In Kürze verlieren sich unsere Spuren in der Dunkelheit, wenn wir Genf auf kleinen Wegen verlassen haben und lautlos über unbeleuchtete Straßen schweben, den imaginären Süden im Auge, irgendwo in der Falllinie eines dieser Sterne, die sich nun zögerlich am Himmel zeigen.

Gegen zwei Uhr morgens legen wir uns im Schutz einer Bushaltestelle zum Schlafen hin. Level three, schätze ich, haben wir erreicht.

 

Strecke:

370km

Zeit:

16:14 h

Schnitt:

22,8 km/h

Höhendifferenz:

3120 m

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