Bagnères-de-Luchon – La Séoube

Dienstag, 21. Juni 2016     


Kurz nach neun Uhr halte ich mein neues Schaltwerk in Händen – ein Gefühl wie Weihnachten. Bis es am Rad verschraubt und justiert ist, vergeht nochmals eine gute halbe Stunde, dann jedoch sind unserer Weiterreise keine Grenzen mehr gesetzt. Auf zur nächsten Herausforderung...

Die Straße zum Peyresourde wälzt sich zunächst breit aus dem Tal, der Verkehr ist jedoch erträglich. Kaiserwetter thront über dem Ganzen und wieder ist kurz-kurz angesagt – heute endlich darf der Schweiß ungehindert fließen. Eine kleines Einkaufsgeschäft mit Ausschank, auf halber Höhe zum Gipfel, nehmen wir zum Anlass für eine Pause bei Bitterlemon. Die Ladnerin öffnet für uns eine Liter-Flasche für drei Euro, um zwei kleine Weingläser voll abzufüllen, und fordert im Anschluss ohne weitere Umstände sechs Euro ein. Weil man jedoch froh sein muss, dass es solche Läden überhaupt noch gibt, nehmen wir ihren Geschäftssinn mit einem hilflosen Schulterzucken hin und erfreuen uns an der grandiosen Aussicht von ihrer Terrasse.

Auffahrt zum PeyresourdeNach oben hin wird der Peyresourde ziemlich ruhig, auch lärmende Motorradfahrer sind nur vereinzelt unterwegs. Die Treiben auf der Passhöhe ist von einer sehr angenehmen Sorte: Radfahrer aller Couleur treffen nach und nach ein und erfreuen sich ihrer Leistungen und lassen sich von den Anwesenden beglückwünschen. Etliche ambitionierte Engländer sind mit einer Reisegruppe unterwegs – sie fahren kleine Rennen gegeneinander, aber auf dem Gipfel verwandelt sich die Konkurrenz in Ausgelassenheit und Überschwang. Einen Engländer mit Gepäck am Rad, der sich zu uns an den Tisch setzt, befrage ich danach, woher er komme. „Aus der Hölle“, sagt er ohne einen Moment des Zögerns, was sein bleiches Gesicht und der Schweiß, der ihm noch immer übers Gesicht läuft, glaubhaft untermalen. Auch nachdem wir unser Mittagessen – Crêpes im Fünferpack – verzehrt haben, drängt es uns nicht zum Aufbruch. Zu viel gibt es mit den Radfahrern an den Nebentischen auszutauschen. Wir fühlen uns unter unseresgleichen und auf wunderbar einfache Weise zufrieden.auf dem Peyresourde

Für heute steht noch ein zweiter Pass an: der Col d‘Aspin, um am nächsten Tag frisch den Tourmalet angehen zu können. Nach Arreau, wo wir ohne weiteren Stopp durchrauschen, beginnt der neuerliche Anstieg. Noch lange behalten wir Arreau mit seinem Industriegebiet im Blick und ermessen daran die Höhenmeter, die wir wie reife Früchte einsammeln. In der Ferne reiht sich Bergkette an Bergkette und es gäbe angesichts dieses zauberhaften Panoramas nicht den geringsten Grund zur Eile. Jedoch begegnen wir hier einem Teil der englischen Rennfahrer wieder, die wir oben am Peyresourde bereits wahrgenommen hatten, und sie treiben sich gegenseitig hoch, unterstützt von einem Verpflegungswagen, der ihnen unterwegs die nötigen Kalorien und Getränke reicht. Ich lasse mich von ihrem Elan mitreißen, obwohl ich es eigentlich nicht fair finde, wenn man sich mit Gepäck an die Fersen von puren Rennradlern heftet, was ja ohnehin meistens schiefgeht – aber was heißt schon ‚eigentlich‘: in jedem Mann steckt auch ein Jäger. Ich rase und keuche, ich fliege einem englischen Duo hinterher, und alle drei verballern wir unsere Kraft, um oben vollkommen erschöpft anzukommen und uns anerkennend zuzunicken.

Abfahrt vom Col d'AspinDie Kulisse ist betörend. Als meine Frau eintrifft, steht ein gutes Dutzend Radfahrer verschiedenster Herkunft auf der Anhöhe und jedem einzelnen steht das Glück ins Gesicht geschrieben. Man redet englisch, deutsch, französisch, holländisch. Fragt nach dem Woher und dem Wohin, und bedauert, dass man nicht den gleichen Weg hat – mit all diesen Radfahrern würde man nur zu gerne die Abende verbringen.    

Unser Tag endet auf einem Campingplatz an der D 618 ein paar Kilometer talwärts. Zuvor holen wir uns an einer Souvenirbude noch Brot, Käse und Wein, um den Abend nicht mit leeren Händen zu bestreiten. Neben unserem Zelt steht das Zelt zweier Franzosen, die wir ebenfalls auf dem Gipfel getroffen haben. Sie allerdings fahren zum nächsten Restaurant zurück, wo sie, wie wir am nächsten Morgen erfahren, einen ausgedehnten, feucht-fröhlichen Abend mit den englischen Rennfahrern verbringen, die dort ihr Quartier bezogen haben. Wir hingegen besorgen uns Tisch und Stühle und lassen den lauen Abend in aller Beschaulichkeit, die die Bergwelt zu bieten hat, ausklingen und tiefe Zufriedenheit legt sich auf unsere Radfahrerseelen. Wenn ich in meinem Leben nur hundert Abende zur Verfügung hätte, gäbe es nicht das Geringste zu ändern an diesem, den ich hier inmitten der imposanten Bergriesen verbringe, an der Seite einer Frau, die mit derselben Begeisterung an diesen Tag erlebt hat und ebenso wie ich unsere Form des Reisens – mit dem wenigen, was wir an Gepäck mitführen – über die Maßen zu schätzen weiß.

Strecke:

59 km

Höhendifferenz:

1450 m

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