Belchen satt Freiburg, 26. Juli 2013, 8 Uhr
| Strecke | Video |
Im Prinzip ist alles steigerungsfähig. Die bekanntesten Beispiele sind etwa Finanzkrisen, Managergehälter oder Rettungsschirme zur Weiterfinanzierung der Bänkerboni. Das alles ist sehr aufregend, und so war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch aus Randonneurszirkeln ein ernsthafter Vorstoß unternommen wurde, das Erregungspotenzial am Start weiter zu erhöhen. Die Erwartungen vieler richteten sich in Deutschland seit Monaten auf die Eröffnung der ersten Superrandonnée, der Belchen satt im Breisgau. Die Zahl der Höhenmetern auf der 600-Kilometer-Schleife hat sich mit 12 000 im Vergleich zur gängigen Variante verdoppelt. Mancher Manager wird angesichts einer solchen Steigerungsrate vor Neid glatt erblassen.
In Anbetracht solcher Aussichten neigt man dazu, die Dinge zu verklären: Jeder Akt, am Rad verrichtet, erhält eine tiefe, geradezu religiöse Bedeutung. Aus alter Bettwäsche zurechtgerissene Lappen ziehe ich liebevoll über die stählernen Rohre und durch die Ritzen. Zehn Ritzel, meine Freunde in den harten Stunden der kommenden Anstiege, werden sorgsam dem Hinterrad einverleibt. Die Kette will poliert sein: sie ist das Zugband, das mich hinaus ins Universum schleudert. Ich ertappe mich dabei, wie ich beim Schrauben ohne erkennbaren Grund innehalte und vor mich hinglotze. Man wird etwas komisch, aber das gibt sich wieder. Spekulanten können ein Lied von solchen Gefühlen singen - ich bin überzeugt, dass auch sie solche quasireligiösen Zustände kennen, wenn sie an den Roulettetischen der Hochfinanz die Schuldenspirale anheizen.
Als ich mich Freitagmorgen, 8 Uhr, mit dreißig anderen zusammen endlich in Fahrt setze, steht das Ehrfurcht gebietende Flammenmeer der Bergspitzen vor mir, und ich muss grinsen wie ein kleiner Junge, der sich einbildet, die Welt fiele ihm zu, und der nicht glauben kann, dass das Leben voller Heimtücke und Niedertracht ist. Ich bin sicher, dass wir mutmaßlich die glücklichsten Menschen unter der Sonne sind. Gäbe es tatsächlich so etwas wie einen Ätherleib, dann hätten wir nach meiner Wahrnehmung kollektiv in diese Existenzform gewechselt, allem Schnaufen und Schwitzen ungeachtet. Zwar geben wir uns den Anschein, uns an den Ecken und Kanten der Landschaften abzumühen, aber für mein Dafürhalten schweben wir über die grünleuchtenden Hänge des Südschwarzwaldes, im glitzernden Gold der Sonne. Das alles ist natürlich höchst fragwürdig. Aber da sieht man, was eine plumpe Verdoppelung der Höhenmeter mit einem Menschen machen kann.
Längst überfällig nimmt jenseits des Rheins die Gravitation abrupt zu und eine erste Ernüchterung setzt ein. Die Straßen des Schweizer Jura ziehen sich in der Hitze beulenhaft quer durch Felsbrüche, Wälder und Weiden, strecken fast obszön ihre aufgeblähten Bäuche der Sonne entgegen.
Man wundert sich, wie es überhaupt zu solchen Straßen kommen kann. Sie müssen erbaut worden sein, bevor der Mensch die Serpentine erfunden hat. Meine zehn stählernen Freunde am Hinterrad ziehen sich klammheimlich aus der Affäre, im Einsatz bleibt der eine, der, mit achtundzwanzig Zähnen bewaffnet, mir zuletzt noch zur Seite steht, als wir uns im Bannkreis des Schweizer Bölchen bewegen. Lange Zeit sind wir ein gutes Team, dann aber lässt auch er mich im Stich und ich beginne, mein Rad über den kochenden Asphalt zu schieben.
Auch bei den mutmaßlich glücklichsten Menschen unter der Sonne sind die Grundlagen des Glücks fragil und mit aller freudigen Erregung ist Schluss, wenn's einem den Riemen runterhaut. In der abendlichen Auffahrt zum Weißenstein ist es so weit, nach gerade mal 170 Kilometern. Da ist nichts mehr zu holen: Ikarus geht zu Boden. Ich lege mich längs auf ein Schotterstück am Rande der Straße, starre in den blauen Himmel. Meinen vorbeiziehenden Mitfahrern rufe ich zu: Ich komme gleich, komme gleich... Mein Körper rebelliert, er will sich keinesfalls damit abfinden, dass wir gemeinsam den Zenith des Glücks überschritten haben. Mein Gedärm rumort. Ich versuche aufzustehen. Die Folge davon ist, dass ich mich ins Gebüsch schlagen muss und die unberührte Landschaft mit meinen hässlichen Hinterlassenschaften verschandeln muss. Peinlich berührt versuche ich, wieder aufs Rad zu steigen und mich vom Unglücksort zu entfernen. Ein paar Meter weit geht es gut, bis ich wieder fast umkippe. Mir wird kalt, trotz der Hitze. Ich schleppe mich zum nächsten Grünstreifen, schaffe es noch, meinen Biwaksack aus der Tasche zu reißen und ergebe mich fröstelnd bei 35 Grad meinem Schicksal. Hunderte von Steckmücken fliegen ihre Angriffe auf mich. Es ist alles entzetzlich.
Eine Stunde vielleicht plage ich mich ab auf dem harten Untergrund, bereit, mich von allem zu verabschieden. Die Dämmerung setzt ein. Die Mücken treiben mich zum Wahnsinn, ich halte es nicht mehr länger aus. Bereit, die Entscheidung zu suchen, stehe ich auf, packe taumelnd mein Zeug zusammen, schiebe mein Rad ein paar Meter. Dann kommt mit einer Urgewalt mein ganzer Mageninhalt hoch, eine erstaunliche Menge, und es sieht nicht schön aus, was sich da auf die Straße ergießt - dem Vernehmen nach eine der steilsten Passstraßen der Schweiz -, bringt aber enorme Erleichterung. Mein Rad schiebend, setze ich einen Schritt vor den anderen - schleichend setzt meine Rekonvaleszenz ein. Das Flammenmeer der Berspitzen züngelt wieder tückisch vor mir und über mir - bleibt mir etwas anderes, als es tapferen Schrittes zu durchschreiten?
In Grenchen, nach dem schmerzhaften Aufstieg zum Weissensteinpass, erfahre ich, als ich mich in den weißen Plastikstuhl einer Imbissstube fallen lasse, dass ein Packen Radfahrer vor einer Viertelstunde den Imbiss verlassen hat. Sie haben das Lager leergefressen. Statt Pizza bringt mir der Mann an den Töpfen eine Familienportion Pommes. Allein beim Anblick kringelt sich mein Magen wie ein Regenwurm. Ich esse nicht einmal eine Handvoll. Der Holländer aus unserem Starterfeld - auch er ist spät dran - fährt vorbei und setzt sich zu mir: wir blicken uns an, jeder eine blaue Schweizer Bierdose in der Hand. Feldschlösschen. Das klingt nach Erdung.
Schon bald hinter Grenchen verliert sich der Holländer mit seinem roten Rücklicht in der Dunkelheit, während sich in meinem Leib die Abläufe neu sortieren. So viele Dinge, die aus dem Ruder laufen können - erstaunlich, wie so ein Organismus überhaupt die Übersicht behält. Hoch zum Chasseral klettere ich wieder erstaunlich leichtfüßig. Vereinzelt liegen irgendwelche Kollegen, deren Identität ich nicht feststellen kann, ausgestreckt auf Bänken. Die Erschöpfung hat auch sie niedergestreckt.
Nach dem, was hinter mir liegt, kann ich es kaum fassen, heute Nacht auf dem Chasseral zu stehen: der Blick von hier, dem höchsten Punkt der Fahrt, über den nächtlichen Bieler See lohnt, wie ich mir nun einbilde, das erlittene Ungemach. Tiefschwarze Kleckse, mit irrenden Lichtern gesprenkelt, tanzend im Wind, der hier oben am Gipfel sein wohlgefälliges Unwesen treibt. Für Augenblicke kommt die Leichtigkeit zurück und mir ist, als ob sich mein geschundener Leib von den Böen übers Land tragen ließe. Ich muss ihn zurückpfeifen.
La Goule. Im ersten Tageslicht drängt sich der Gedanke auf, dass der Abbruch zum Doubs in fernen Zeiten von einem Zyklopen geschaffen wurde: Mit einem furchterregenden Schwert, wie man es einst zum Abschlachten von allerhand gigantischen Fabelwesen benutzte, muss er die Furchen gezogen haben, tiefer und immer tiefer, kreuz und quer, in einem Anfall wilder Raserei. Noch in unseren Tagen gerät man angesichts dieser engen Passage, La Goule, die in zauberhafter Bescheidenheit durch diesen versteckten Erdenwinkel führt, in Extase. Die von Schlaglöchern durchsetzte Straße fällt steil ab und steigt steil an. Nebelzungen von der Nacht hängen über dem Flusstal, lecken sanft an diesem kleinen Kirchlein, von wo der Weg wieder fast vertikal in den blauen Morgenhimmel weist, aber irgendwie lässt einen das beruhigende Gefühl nicht los, dass man hier auch wieder rauskommt. Vollkommen enthemmt schiebe ich mein Rad nach oben aufs nördliche Hochplateau, wo die Sonne bereits auf mich wartet.
Ich kreuze zahlreiche malerische Orte, die den Frühnebel eben erst abgestreift haben, folge sattgrünen Flussläufen, arbeite mich Berg um Berg voran. Was für eine traumhafte Strecke! Autos sind geradezu eine Seltenheit. In irgendeinem kleinen Weiler auf dem Weg zu den nächsten Anhöhen erstehe ich eine Honigmelone in einem zu diesem heißen Tag passenden Feuergelb.
Die Vogesen brutzeln in der Mittagshitze. Es wäre keineswegs überraschend, wenn sich heißer Bratensaft über den schroffen Aufstieg zum Ballon de Servance ergösse, um sich in den Schlaglöchern zu sammeln, so wie der Bratensaft, der mir aus allen Poren quillt, eine lange Spur des Leidens zieht, als ich wieder mein Rad an beiden Hörnern greife und bergan schiebe. Liter um Liter schütte heute ich kühles Brunnenwasser über mich, um den Schweiß zu verdünnen.
Bäche, Brunnen, Schweiß, Pisse, Cola, Sirup, Panaché, Bier - rundum gluckert es, rauscht, sprudelt, tropft, zischt, fließt es, talwärts, immer nur talwärts. Nur wir mühen uns wie Karrengäule die meiste Zeit nach oben. Es scheint unsere Natur zu sein, gegen den Strom zu schwimmen, eine Feststellung, die mich immerhin mit großer Genugtuung erfüllt. Nach 250 Kilometern Alleinfahrt habe ich mich in der Auffahrt zum Ballon d'Alsace einer Dreiergruppe zugesellt. Oben werden wir von findigen Radwanderern als Teilnehmer einer Superrandonnée entlarvt, und es tut gut, für einen Augenblick eine solche Zuwendung zu erhalten. Ihre Neugier gibt mir Auftrieb, auch wenn wir beileibe noch nicht am Ende sind und noch längst nicht so kaputt, wie wir es heute Nacht sein werden, wenn wir den letzten Pass hinter uns haben. Vor der zweiten Nacht ist es noch ein Leichtes, diesen kurzen Moment der Leichtigkeit mit einem breiten Lachen zu verkaufen.
Die Sache mit der Leichtigkeit erweist sich wie erwartet als ein vorübergehendes Phänomen. Im Aufstieg zum Grand Ballon, auf diesem windigen Sträßchen von Geishouse aus, das an manchen Stellen nichts ist als fortlaufende Fetzen von Asphalt, keife und zetere wie ein verbittertes altes Weib. Zum Fahren ist die Straße zu steil und zum Schieben zu flach. Unwillig entscheide ich mich passagenweise fürs Schieben und schimpfe zum Ausgleich vor mich hin. Die Kette hängt ebenso durch wie meine Stimmung. Es dämmert, als wir die Route de Crête gerade noch rechtzeitig erreichen, um an der Ferme Auberge am Kreuzungspunkt noch ein Vesper und Getränke zu bekommen - genug, dass meine Moral einen letzten Aufschwung erfährt. In der Dunkelheit machen wir unsere Kontrollfotos am Grand Ballon. Trotz der Höhe von 1300 Metern baden wir in der Hitze.
Die Berge, die hinter uns liegen - darunter Schauinsland, Belchen, Bölchen, Weissenstein, Chasseral, Ballon de Servance, Ballon d'Alsace, Grand Ballon, Petit Ballon - vermischen sich zu einem wilden Hindernisparcour; Hindernisse, die man nimmt wie ein Hürdenläufer, anfangs ungebremst und wie im Rausch, dann ein erstes Straucheln, die nächsten Hürden, ein neuerliches, letztes Straucheln: die Müdigkeit fordert ihr Recht und wir legen uns eine halbe Stunde flach - für mich macht das zusammengenommen zweieinhalb Stunden Schlaf seit unserem Start vor 40 Stunden. Dann das letzte Kontrollfoto auf dem Firstplan um 3.15 Uhr. Ein Seufzer der Erleichterung. Das merkwürdige Gefühl, mit dem großen Ganzen verwoben zu sein, auch wenn mein übernächtigter Zustand mir nicht erlaubt, davon mehr als nur am Rande Notiz zu nehmen. Besser so: in der nächtlichen Abfahrt ist mit solchen Gefühlen keinem gedient.
Nach fast zwei Tagen und Nächten neigt sich das Abenteuer seinem Ende zu. Wäre ich von der geachteten Zunft der Börsenzocker, würde ich mit Grausen zusehen, wie die Kreisbewegung des Roulettes erstirbt. Jetzt besser nicht an die Schulden denken. Als kleiner Randonneur dagegen windet man sich, als es frühmorgens dem Ende zugeht, über Landstraßen des Rheintals, wehrt sich verzweifelt gegen die hereinbrechende Müdigkeit und ist enorm erleichtert, wenn in der Morgendämmerung die Stadt Freiburg auftaucht. Das Ziel ist erreicht. Höhenmeter hin oder her - der wirkliche Höhenflug beginnt bei der Belchen satt hinterher: dann, wenn ihre Räder stillstehen und sie am Sonntagmittag vor ihrem Weizenbier sitzen, diese hohlwangigen Gestalten, deren Augen von zwei schlaflosen Nächten tief in den Höhlen liegen. Spätestens in dieser Stunde sind sie mutmaßlich die glücklichsten Menschen unter der Sonne.
Strecke: |
621 km |
Höhendifferenz: |
12200 hm |
Fahrzeit: |
33:04 h |
Schnitt: |
18,8 km/h |
Gesamtzeit: |
46:53 h |