ARA Breisgau: 300 Kilometer Freiburg, 14. April 2012
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Die modernen Geräte, die man sich in der gegenwärtigen Phase der menschlichen Zivilisation in die Hand- oder Trikottaschen steckt, vermögen beängstigend viel. Tippt man nur ein wenig darauf herum, können sie einem bei Interesse den Wetterradar von Südbaden und der angrenzenden Schweiz zeigen - zu jeder Zeit. Am Samstag, den 14. März abends um halb zehn, als wir - nach über zwölf Stunden im Sattel - bereits seit geraumer Zeit im Trockenen sitzen, zeigt mir mein Tischnachbar auf dem Display eines solchen Apparates eine tiefblaue Regenfront über dem Dreiländereck, die sich von der Schweiz her zuspitzt und kurz vor Freiburg pfeilförmig endet. Es scheint, als ob sich der Himmel gegen das Breisgau verschworen hätte.
Zur selben Zeit etwa versammeln sich ein halbes Dutzend Polizei- und Rettungsfahrzeuge auf der Kreisstraße 4912 zwischen Hartheim und Hausen, ungefähr an der Pfeilspitze der Regenfront. Ihr Blaulicht zerreißt wie ein Schrei in der Stille die regengetränkte Nacht. Ich stelle mir vor, dass irgendwo auf der nassen Straße ein Fahrradhelm liegt, den man abnehmen muss, wenn man versucht, einen Menschen wiederzubeleben. Ich stelle mir vor, wie sich Rettungshelfer verzweifelt bemühen, in einen leblosen Körper, der auf den überspülten Asphalt geschleudert wurde, wieder Leben einzuhauchen. Vergeblich. Der Mensch, der dort liegt, hat sich auf dieser Landstraße aus dem Leben verabschiedet.
Seine Augen haben heute einen letzen Blick auf die Schönheiten der Welt geworfen. Gäbe es eine Vorahnung davon, dass ein solches 300-Kilometer-Brevet ein langer Abschied aus dieser Welt würde, man könnte in der Ruhe, wie sie im hinteren Teil des Münstertals herrscht, einen ersten Frieden mit dem Leben machen. In den steilen Hängen noch einmal seinen Atem spüren, den Sauerstoff, wie er die Lungen füllt. Man würde sich in Bad Säckingen viel Zeit nehmen, von der alten Holzbrücke aus auf den Rhein zu schauen. Vielleicht ließe sich seinem beharrlichen Dahinfließen ein letztes Körnchen Weisheit abgewinnen.
Im Gasthaus Oberbölchen würde man vor einem Teller Spaghetti mit seinen Radfreunden anstoßen, ein letztes Mal - mit Apfelschorle, was soll's. Man würde ihnen für einen kurzen Moment in die Augen sehen und etwas ungeheuer Wertvolles darin erkennen. Ihre Gesichter würden auf der Netzhaut eine gute Weile verharren, ehe sie nach der Weiterfahrt durch den Anblick der bizzarren Felswände überlagert würden, die hier seit ewigen Zeiten schroff in die Höhe ragen.
Der verbleibende Teil der Auffahrt zum Sattel des Schweizer Belchen ist ebenso steil wie die Abfahrt. Man muss Angst haben, wird einer der Mitfahrer später witzeln, dass man oben nicht mit dem Tretlager aufsetzt. Ein lustiger Gedanke: nach den überstandenen Strapazen oben wie auf einem Schaukelpferd hin- und herwippen. Denselben Rausch spüren wie als Kind, wenn man nicht genug davon bekam, dass die ganze Welt um einen herum schwankt. Und sich dann in die Abfahrt stürzen, mit demselben kindlichen Vergnügen.
Man würde dem Regen trotzen und dem Wind. Man würde fluchen und die Faust gegen den Himmel erheben und bei all dem wissen: es ist gut so. Zum Leben gehört auch das Leiden. Zum Leben gehört das Sterben.
Und doch: man würde sich beim Nahen der Nacht nichts sehnlicher wünschen, als ein letztes Mal die Wärme der Nächsten zu spüren, ihre Hand zu halten in dem Moment, wo einem die Stunde schlägt. Dieser Wunsch bliebe unerfüllt.
Aber ich glaube nicht an Vorahnungen. Mich trifft die Nachricht von einem tödlichen Unfall auf der Strecke völlig unvorbereitet. Im Spaß habe ich schon manches Mal auf die Frage, worum es beim Langstreckenfahren gehe, geantwortet: es geht ums Überleben. Heute abend ist grausame Wirklichkeit daraus geworden. Jeder der abgekämpften, durchnässten, durchgefrorenen und strahlenden Rückkehrer ist ein Überlebender. Ihr Auftauchen geht mir mehr als je zuvor unter die Haut.
Am Ende einer langen Nacht, als das morgendliche Sonntagsgeläut bereits verstummt ist, verdichten sich die Vermutungen zur Gewissheit. Einer bleibt übrig, von dem jede Nachricht fehlt. Einer, der Dutzende von Brevets unter widrigsten Umständen zuende gefahren hat. Der, wie es heißt, nie aufgeben würde. Er wurde zum Aufgeben gezwungen, mit fünfundfünfzig Jahren. Hinterrücks. Zu früh, viel zu früh.
In memoriam Kurt Lachner