Cheshunt, Samstag, 23. Juli 2005, 8:15 Uhr
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Der Startschuss fällt für uns um 8.15h. Eine Viertelstunde vorher sind die Spezialräder gestartet: Liegeräder und Tandems. Nur wenige Zuschauer, zumeist Angehörige, stehen vor dem Bahnhofsvorplatz von Cheshunt und unter ihrem Beifall verlassen wir in einer Gruppe von 50 Gleichgesinnten das Areal. Wann wohl – und in welcher Verfassung? – werden wir wieder hier eintreffen? Im folgenden Gewirr der Straßen verlassen wir uns auf die Eingeweihten, vertrauen deren Ortskenntnisse. „Lumpy hills around London“ lautete die Beschreibung der Strecke bis zum ersten Kontrollpunkt, 65 km weiter. „lumpy“ übersetzt Langenscheidts Lexikon mit klumpig. Das ist klingt recht beschönigend für dieses Auf und Ab auf der nach oben offenen Prozentskala... Es dauert höchstens eine halbe Stunde, bis sich die Startergruppe in Grüppchen aufgelöst hat. Es macht Spaß: die Gedanken springen von Bergkuppe zu Bergkuppe, der Puls schießt hoch und fällt ab, das Auge verliert den Blick für die Gesamtdistanz. Ein blendender Anfang.
Der erste Stopp in Gamblingay, 2:41 h später. Noch treffen die Fahrer im Minutenabstand ein. Axel und ich bewegen uns weit vorn, zusammen mit einem Liegeradfahrer aus Holland mit seinem GPS-Gerät und einem verrückten jungen Engländer, der reinhaut, was geht. Er fährt Rennen mit dem Liegeradfahrer. Ich erinnere mich an sein verbeultes Schutzblech und seine etwas altertümliche Tasche am Gepäckträger. Diese Jagd über die Straßen, der Sturm auf die Hügel, diese Abfahrten, tief über den Lenker gebeugt, all das ist so berauschend. Ich fühle mich glänzend. Wie lange wird dieses Gefühl wohl noch anhalten? Plötzlich ist der verrückte Engländer weg. Wir haben ihn nicht mehr wieder gesehen.
Eine Beschilderung gibt es nicht, aber das Fahren mit dem Streckenkärtchen funktioniert erstaunlich gut, auch wenn es viel Konzentration erfordert. Dennoch bin ich immer wieder erleichtert, wenn zwischen den Hecken, die die meist schmalen Sträßchen säumen, irgendwo wieder der Liegeradfahrer auftaucht, mal vor, mal hinter uns – sein GPS verleiht Sicherheit. Er hat minutiös die gesamte Strecke einprogrammiert. Auch der zweite Abschnitt ist bergig, aber schon etwas entspannter, was mir eher erlaubt, einen gewissen Rhythmus beizubehalten. Wir ziehen vorbei an Weiden und Getreidefeldern, unter grauem Himmel, unterbrochen von Straßendörfer mit roten Steinhäusern in ein-, höchstens zweigeschossiger Bauweise. Von Zeit zu Zeit Farmhäuser auf großzügigen Grundstücken. Ein Land, so scheint mir, das praktisch denkt und nutzbar macht, was ihm die Insel zur Verfügung stellt.
Gegen 13.30 Uhr strecken wir unsere Stempelkarten in Thurlby zum zweiten Mal den überaus freundlichen und hilfsbereiten Helfern entgegen. Zwei Räder lehnen bereits neben dem Eingang dem Gemeindehaus und sind weg, als wir uns nach kurzem Stopp wieder in die Pedale einklicken. Diese zwei Räder begleiten uns wie Phantome bis nach Edinburgh – immer eine Nasenlänge voraus. Eine Mahlzeit, die in den Kontrollstellen meist zum Pauschalpreis von drei bis fünf Pfund angeboten wird (entspricht 4,50 bis 7,50 €), und schon jagen wir wieder unserem großen Ziel hinterher.
Nun beginnt das Flachland. Kaum Höhenmeter und günstiger Wind, der unser Zweiergespann nicht allzu sehr benachteiligt. Nicht nur hier zeugen die kleinen Wege von der Mühe, die sich die Veranstalter gemacht haben, um uns einerseits von den großen Verkehrsachsen fern zu halten und andererseits den Reiz des englischen Hinterlandes nahezubringen. Es geht im Zickzack entlang der Hecken, die die Prärien und Kornfelder trennen, alles in allem nicht spektakulär, aber immerhin: es rollt. Es rollt gut und auch als wir in Lincoln eintreffen - neben Edinburgh die größte Stadt, die wir passieren (80 000 Einwohner) - sind wir immer noch in vorderster Front, wenn die genannten Räder uns auch hier wieder vor der Jugendherberge erwarten. Die beiden Fahrer, einer davon, Holländer, unser Zimmergenosse in Cheshunt, brechen auf, als wir beginnen, Suppe zu löffeln, während der Kaffee auf Trinktemperatur herunterkühlt. Die vergangenen 223 Kilometer haben erste Spuren hinterlassen, es tut gut, einen Moment auszuruhen, den Fahrradsattel gegen einen harten aber soliden englischen Stuhl zu tauschen.
Der Spätnachmittagverkehr in Lincoln zwingt zu höchster Konzentration, zumal ich mich noch längst nicht an den Linksverkehr gewöhnt habe. Die Temperatur ist mittlerweile fast sommerlich und für eine Etappe verschwinden die Knielinge in den Taschen. Ich bin mit meiner Anordnung sehr zufrieden: ein Lenkerbeutel mit Kartenfach, der das Wichtigste für unterwegs enthält und auch während der Fahrt den Zugriff erlaubt, und eine Satteltasche für Ersatzklamotten und Ausrüstung für die Nacht. Schon zu Beginn dieser Etappe zeigen sich Unstimmigkeiten mit dem Streckenplan bei den Entfernungsangaben; als wir Lincoln verlassen, haben wir zehn Kilometer mehr auf dem Tacho als vorgegeben. Bei Gainsborough ziehen wir an der einzig nennenswerten Industrielandschaft der gesamten Strecke vorbei, einem Kraftwerkskomplex mit acht Kühltürmen, aber schon bald darauf gibt die Landwirtschaft wieder den Ton an.
Vor Thorne, neben Cheshunt der zweite Startort für LEL – knapp hundert Starter gingen hier gleichzeitig mit uns auf die Strecke –, erwischt es uns: irgendwo haben wir eine Abzweigung verpasst, fahren hin und her, fragen nach dem Weg, haben Glück: über ein schmales Sträßchen finden wir zum Rugby-Club, dem vierten Kontrollpunkt bei Kilometer 300. Auch hier reichen uns hilfsbereite Hände Speisen und Getränke, aufmunternde Worte sorgen für gute Laune – eine herzliche, sehr familiäre Stimmung. Kurz nach uns trifft eine etwas 15-köpfige Gruppe ein, und wir beschließen, mit dieser Gruppe weiterzufahren. Der Wind hat zum Abend hin zugenommen und bläst uns mehr und mehr ins Gesicht.
Es sind kräftige Leute in dieser Gruppe, darunter ein braungebrannter kleiner Franzose, Richard Léon, der zwei Tage zuvor die 1200 Kilometer von Madrid-Gijon-Madrid gefahren ist und die Austragung von LEL vor vier Jahren gewonnen hatte. Der Amerikaner Richard Avallone ist mit von der Partie und ein weiterer Fahrer, Nick Jackson, den wir den „Cambridge-Man“ nennen - wegen der Aufschrift Cambridge - auf seiner knallgrünen Jacke. Er zeigt sich viel im Wind. Nach fast 300 Kilometern Alleinfahrt ist es angenehm, sich vom Feld ziehen zu lassen, und sich nebenher noch mit dem einen oder anderen zu unterhalten. Später übernehme zusammen mit Richard auch ich meinen Teil der Führungsarbeit, so dass ich ohne schlechtes Gewissen auf Hovingham zurollen kann, während die Nacht uns mehr und mehr verschlingt. Faszinierend, wie lange es hier hell ist: Sonnenuntergang ist gegen 21.15h und noch lange danach bleibt es hell. Die Nacht ist da, als wir Howard Castle passieren, eine Schlossanlage, durch die mittendurch die Straße führt, direkt auf einen angestrahlten Obelisken zu – wie ein mahnender Zeigefinger im Nachthimmel. Gegen halb zwölf treffen wir in Hovingham ein, nach etwa dreizehneinhalb Stunden reiner Fahrzeit für annähernd 400 Kilometer. Ich bin verschwitzt, die Klamotten kleben am Leib, ich stinke, aber die Moral ist intakt. Es gibt noch einen Teller Nudeln, Obstsalat zum Nachtisch; dann eine Schaumstoffmatratze und eine Decke. Well done, denke ich, klemme mir Stöpsel in die Ohren und falle wohl im selben Moment in Tiefschlaf.
Zusammen mit etlichen anderen lassen wir uns um halb vier wecken. Wir hatten Glück, so weit vorn zu sein, denn für alle Nachfolgenden werden die Schlafplätze knapp und der Gemeindesaal ist, als wir aufstehen, übersät mit Schlafenden in jeder denkbaren Position. Fast schon, dass man beim Gehen darauf achten muss, auf keinen Körper zu treten. Während dem hastigen Frühstück treffe ich Istvan, der gerade erst eingetroffen ist. Schon kurz nach dem Start hatte er sich aus der Gruppe um Urban verabschiedet, um ein etwas gemäßigteres Tempo zu fahren und jetzt fühlt er sich sehr gut. Urban selbst vermute ich schlafend in einer Ecke, weil ich aus der Ferne sein Rad zu erkennen glaubte, was sich später aber als Irrtum herausstellt. Mit Axel und trete ich in die kühle Nacht hinaus, ziehe die Jacke zu, streife die langen Handschuhe über und schwinge mich aufs Rad. Der zweite Tag im Sattel.
Wir waren davon ausgegangen, uns in einer größeren Gruppe Richtung Schottland zu bewegen, aber schon bald sind wir mit dem Cambridge-Man und einem Italiener, der sich hinten festbeißt, alleine. Nick Jackson ist ein starker Zeitfahrer und fährt mit 42x23 viel vorn, ganz in seinem eigenen Rhythmus, und immer wieder reißt ein großes Loch auf. In dieser Konstellation fahren wir in den anbrechenden Tag hinein. Die Steigungen nehmen wieder zu, aber sie sind hier nicht mehr von der hochprozentigen Art wie im Norden Londons. Das Wetter zeigt sich von seiner besseren Seite: zwar viel Grau, aber nur leichter Gegenwind, Temperaturen im zweistelligen Bereich, kein Regen. Alles in allem gelangen wir in gutem Tempo nach Eppleby. Zeit fürs zweite Frühstück. Ich spüre zum ersten Mal meinen Magen und die Magensäure, die mir die Speiseröhre hochschwappt. Kein gutes Gefühl...
Der Cambridge-Man ist vor uns abgefahren und zu zweit plus dem Italiener im Schlepptau machen wir uns nun endgültig auf in die schottischen Gefilde. Die Landschaft ist deutlich verändert. Grüne Hügel, keine Getreidefelder mehr, die Ortschaften liegen viel weiter auseinander. Trotz seiner bergigen Struktur erscheint das Land weitläufiger, offener. Die Gegend spricht mich viel stärker an, als die englischen Grafschaften mit ihren Heckenlandschaften. Wie schon auf dem ganzen Weg fällt auch hier auf, wie viele tote Hasen unseren Weg pflastern. Sie werden platt gefahren, und kein Mensch kümmert sich um sie, bis sie irgendwann wie haarige Pfannkuchen auf der Straße kleben. Die Engländer sind eine Nation von Jägern, auch die Fuchsjagd, nun offiziell verboten, wird sicherlich auf den Straßen ihre Fortsetzung finden. Ich denke, Radfahrer lösen bei Engländern ähnliche Reflexe aus wie Jagdwild, auch wenn sie im letzten Moment vor dem Aufprall dann offensichtlich – und zum großen Glück – wieder zur Besinnung kommen und ihr Fahrzeug knapp am Objekt vorbeisteuern. Immerhin herrscht hier im Norden eine relativ geringe Fahrzeugdichte. Irgendwann fährt Nick Jackson wieder mit uns und er und Axel übernehmen den Hauptanteil im Wind, der Italiener beißt sich hinten fest, verweigert jede Führung. Obwohl mir kotzübel ist, lassen wir ihn dann doch an irgendeinem der Aufstiege stehen. Schade, aber gut für die Moral in der Gruppe.
Als wir am späten Vormittag bei Kilometer 530 in der Jugendherberge von Alston einbiegen, hat sich mein Zustand verschlechtert. Die Anstrengung schlägt mir heftig auf den Magen, meine Verdauung rebelliert. Ich esse einen Teller Suppe und überbackene Kartoffeln und trinke Tee, was mir nur selten gelingt. Gerade als wir im Aufbruch sind, tritt Urban durch die Tür. Er sieht sehr übernächtigt aus (aber wahrscheinlich sehen wir auch nicht besser aus), und hat, so stellt sich heraus, hier seine erste halbe Stunde geschlafen. Bis hierher war er mit einer Gruppe von Bayern unterwegs, die schlaflos weitergezogen sind. Wir freuen uns über die Verstärkung und kehren, nachdem auch Urban gegessen hat, wieder zurück auf die Straße.
Irgendwann rollen wir wieder zusammen mit dem Cambridge-Man über die Berge. Stopp in Canonbie, Stempel, Essen, Toilette, weiter. Den herzlichen Empfang der Helfer nicht zu vergessen. Sie sind die eigentlichen Helden dieser Veranstaltung: Tag und Nacht stehen sie bereit für eine Handvoll Verrückte, die pro Stunde hier eintrudeln. Wir passieren das buddhistische Kloster in Eskdalemuir, ein eigentümliches Gebäude. Ursprünglich als Kontrollpunkt im Plan, hatten die Mönche später wegen Terminüberschneidung abgesagt. Es wäre interessant gewesen, einen Blick hinter die weißen, mit Türmchen und Figuren besetzten Mauern zu werfen.
Stopp in Ettrick, letzte Kontrolle vor Edinburgh. Später Nachmittag. Ich schaffe es, eine Cola zu trinken und eine Kleinigkeit runterzuwürgen. Wieder auf dem Rad, spüre ich sofort meinen Magen. Ich schleppe mich weiter, denke nur noch an Edinburgh, aber der Weg dorthin verlangt uns noch einiges ab; war das Wetter am Nachmittag ganz angenehm, ist es hier oben auf den Bergen kühl und windig. Schafe dösen auf den Straßen und verlassen nur widerwillig die Fahrbahn. Was für ein einsamer Landstrich!
Eine halbe Stunde vor dem Wendepunkt hat die Anmut ein jähes Ende. Meine Verdauung zwingt mich zu einem abrupten Sprung in die Büsche. Auf der Straße, bis zu diesem Punkt menschenleer, ziehen währenddessen andere Fahrer an mir vorüber. Ein doppelt bitterer Moment. Weiter unten warten meine beiden Gefährten. Mir ist die ganze Angelegenheit ziemlich peinlich und ich bin sehr dankbar fürs Warten.
Edinburgh: auf dem Highway umkreisen wir die Hafenstadt, besorgen in einem der typischen Krämerladen auf der Insel dunkles englisches Bier (Sonntagabend, 19 Uhr!). Ob das meiner Verdauung wirklich hilft? Nun, schlimmer kann’s nicht werden. Der ersehnte Stempel am Wendepunkt in Dalkeith, einem Vorort von Edinburgh, dann die erste Dusche nach 700 Kilometern. Die halbe Stunde danach ist einzigartig auf dieser Tour: wir sitzen zweckfrei am Tisch, trinken Bier und unterhalten uns – so als hätten wir alle Zeit der Welt. Deutsche Gemütlichkeit... Nebenbei gelingt es mir, trockene Kleieriegel, die man hierzulande ins Müsli gibt, in kleinen Schlucken Bier aufzulösen und nach unten zu spülen. Mehr geht nicht.