Sonntag, 29. Juni 2008
| Strecke |
Ich bin zeitig auf den Beinen, um vor dem ersten Ansturm meiner motorisierten Zeitgenossen den Großteil des nächsten Passes, dem Col de la Madeleine, hinter mir zu haben. Außer mir ist auf dem Campingplatz noch keine Menschenseele wach. Kein Wunder: eine Gruppe Jugendlicher hat gestern abend bis weit in die Nacht hinein auf dem Campingplatz mit Technogewummer ordentlich gefeiert - was es zu feiern gab, blieb mir verborgen - und trotz meiner Freude über die aufgeweckte Jugend heutzutage war an doch Schlaf erst zu denken, nachdem ich mir Oropax in die Ohren gestopft hatte.
Die Straße hoch zum Col de la Madeleine liegt noch im Schatten, als ich die nächste Hürde Richtung Heimat angehe. Um acht Uhr ist die Strecke noch kaum befahren; die Ruhe lädt ein zur sonntägliche Einkehr. Es gibt Leute, die sitzen um diese Zeit auf knarzenden Kirchenbänken, ich sitze auf dem Rad - schaue von Zeit zu Zeit himmelwärts, dorthin, wo ich weit entfernt die Passhöhe vermute. Meine Beine werden von Tag zu Tag besser und ich gerate in eine Art Sog, der mich nach oben zieht. Wenn man nicht der Mittagshitze ausgesetzt ist, ist der Madeleine von Süden her gut zu befahren. Keine extremen Steigungen - man findet einen Rhythmus und ist früher oben, als man vermutet. 2:03 h zeigt mein Tacho an.
Fast möchte man - oben angekommen - von einer besonderen Stimmung reden. Außer einm belgischen Pärchen mit Motorrad ist im Moment niemand oben. Das wird sich im Laufe des Tages noch ändern, eben wird die Caféterrasse für den Ansturm vorbereitet. Der Fahrer des Motorrades bietet mir an, ein Gipfelfoto von mir zu machen, ich mache als Gegenleistung ein Bild von den beiden, und schon kommt das nächste Motorrad, das nächste Auto, die nächsten Radfahrer. Ich streife mir die Weste über, es geht talwärts. Weite Serpentinen, gewundene Straßen. Irgendwie festlich.
Die Kunst wird sein, am Sonntagmorgen noch irgendwo etwas Essbares für den Tag aufzutreiben. Bei La Bâthie gibt es jenseits der Autobahn einen großen Supermarkt, der geöffnet haben soll, aber ich habe nicht die geringste Lust auf ein Shoppingcenter dieser Größe und vertraue darauf, dass ich in Albertville noch irgendetwas Kleines finde, was mir über den Tag hilft.
Meine Erinnerung trügt mich nicht: an der Abzweigung Richtung Beaufort und dem Col des Saisies ist ein kleines Geschäft, wo man alles bekommt, was nötig ist. Und sympathischen Beistand dazu: heiß heute, woher, wohin, ça alors... bon courage! ...
Von Albertville weg nimmt der Verkehr ein Ausmaß an, das ich in den französischen Alpen so nicht kenne. Auto an Auto wälzt sich eine beängstigende Flut durchs Tal. Meine Hoffnung ist, dass sich der Strom vorwiegend in Richtung Beaufort bewegt und die Auffahrt zum Col des Saisies ungeschoren lässt. Zunächst aber lasse ich Hoffnung Hoffnung sein und verliebe mich spontan in eine Picknick-Bank am Wegesrand. Zeit für ein Päuschen. Die Hitze staut sich hier im Tal, ich fühle mich wie ein Lappen, der tropft und tropft, ob auf dem Rad oder regungslos beim Vespern.
In der prallen Mittagshitze ist der Aufstieg eigentlich kein Zuckerschlecken, aber mich überkommt so etwas wie ein Fieber, das mir das Gefühl von Anstrengung nimmt. Selbst als ich durch den Ort Les Saisies unterhalb und der Passhöhe selbst durch bin, fahre ich weiter wie ein Berserker, als ob ein Bergpreis ausgesetzt wäre. Dann allerdings ist alles vorüber, die Beine treten ins Leere, der Mensch kommt zur Besinnung. Der Col des Saisies also. Eine Gruppe Radfahrer aus Lyon mit Begleitfahrzeug ist mit mir oben, sie laden mich ein, meine Flaschen mit ihren Trinkvorräten aufzufüllen. Sie haben spürbaren Respekt vor meinem Gepäck. Ich wiederum vor ihrer Anteilnahme.
Die Ankunft auf dem Col des Aravis ist nur noch eine Frage der Zeit. Von Flumet aus, wo ich am Dorfbrunnen eine Viertelstunde pausiere, geht es nach einem kurzen Anstieg lange flach ins Tal, ehe ein überschaubarer finaler Anstieg die Sache zu einem honorablen Abschluss führt. Die meiste Zeit habe ich einen Rennradfahrer im Blick - ich hätte mit ihm um die Vorherrschaft am Berg ringen können, aber erstens hätte er mich bezwungen und zweitens habe ich keine Lust. Nach oben hin ziehen Wolken auf, zum ersten Mal wohl seit meinem Start sinkt die Temperatur nachmittags unter dreißig Grad.
Oben fühle mich etwas einsam in dem ganzen Treiben, unter den etlichen Gruppen von Radfahrern verschiedenster Nationen. Ich trinke ein Bier und ziehe weiter. Viel zu tun bleibt nicht mehr. In La Clusaz, sieben Kilometer weiter, finde ich, obwohl es auf Sonntagabend zugeht, einen offenen Supermarkt. Es bleibt die Fahrt ins Tal nach Bonneville. Eine launige Dreiviertelstunde Abfahrt, leichter Gegenwind - seit vorgestern nicht mehr gehabt. Junge Leute, die den Campingplatz von Bonnneville betreiben, locker und sympathisch.
Zwei fast noch jugendliche Engländer lerne ich hier kennnen. Sie sind auf ihrer ersten Radtour, die sie gleich in die Alpen bis runter nach Nizza führt. Drei Wochen nehmen sie sich Zeit dafür. Sie haben Recht. Unter den verschiedenen Büchern, die sie mit sich führen, ist auch eines von Lance Armstrong dabei, "It's Not About the Bike". Ich wünsche ihnen viel Glück.
Strecke: |
156 km |
Zeit: |
8:11 h |
Schnitt: |
18,9 km/h |
Höhendifferenz: |
3404 m |