Donnerstag, 16. August 2012
| Strecke |
Im Schutz des Frühnebels baue ich mein Zelt ab. Im Gastrozelt des Campingplatzes ging es gestern Nacht noch recht hoch her und ich scheine der einzige zu sein, der sich zu dieser frühen Stunde auf den Beinen halten kann – abgesehen von den Hühnern, die rund um meine Niederlassung im aufgeweichten Boden freudig nach Würmern picken. Meine gestern Abend frisch ausgewaschenen Klamotten fühlen sich so an, als kämen sie eben aus dem Waschbecken.
Ich fahre zurück nach Champlitte, finde eine Bäckerei und eine offenen Kneipe, wo ich Kaffee bekomme. Der Hund eines der Stammgäste lässt mich nicht eine Sekunde aus den Augen. Offensichtlich hat er sich unsterblich in meine Croissants verliebt, die ich vor seinen Augen mitleidlos in den Milchkaffee eintauche. Seine Liebe wird auf immer platonisch bleiben.
Die Landschaft wirkt im Nebel wie durch einen Weichspüler gezogen und ich bin dankbar für die Abwechslung. Eine knappe Stunde später ist allerdings wieder alles beim Alten: Sonnenblumenfelder, Maisfelder, Prärien, Wälder. Und natürlich die Straßen, die sich im heutigen Gegenwind in die Länge ziehen. Das Auge sucht den Horizont ab, während die Beine treten und treten. Anders als in den Bergen gibt es hier keinen Fixpunkt, der zum Ziel würde oder Belohnung verspräche. Ist die eine Welle bewältigt, tut sich schon die nächste Senke auf, die nächste Welle.
Ich quere Ortschaften, von denen ich noch nie etwas gehört habe und wohl auch nie wieder etwas hören werde. Erst am Nachmittag erreiche ich Avallon, in der Überzeugung, dass ich hier nun endlich einen Ort von großer Reputation erreicht habe. Hätte ich die orthographischen Feinheiten registriert, wäre offensichtlich geworden, dass die mystischen Nebel von Avalon aus dem gleichnamigen Film woanders gewabert haben müssen. Rund um die historische Altstadt wabern hier zumindest Auspuffabgase in der Nachmittagshitze. Nachdem ich zuvor die Schwierigkeit, in den unscheinbaren Orten entlang der Strecke rechtzeitig Verpflegung zu finden, mittels eines winzigen Lebensmittelgeschäfts am Wegesrand souverän gemeistert habe, löst ein Cola-Automat an einer Straßenkreuzung in Avallon das nun anstehende Problem des einbrechenden nachmittäglichen Tiefs.
Ich stoße zunehmend ins Herz Frankreichs vor, in etwa auf der Höhe der linken Herzkammer - ein durchaus bemerkenswerter Teil unseres Nachbarlandes: renommierte Weine des hiesigen Anbaugebietes, dem Burgund, fließen von den weitläufigen Weinbergen längs der Landstraßen in die Kehlen von Weinkennern aus aller Welt. Gegenwärtig pulsiert allem Anschein nach hier jedoch nicht allzu viel, was bei der Hitze nicht weiter verwundert. Die Straßen, die ich im Vorfeld ausgesucht habe, sind so gut wie tot, der Asphalt gleicht einem Nachtspeicherofen. Wer auf solche Weise seiner Jugendlichkeit nachjagt, braucht ein gutes Quantum Durchhaltevermögen.
Clamecy erreichte ich gegen 19 Uhr und beschließe, hier zu essen, um im Anschluss noch ein, zwei Dutzend Kilometer dranzuhängen. Ich lasse mir eine Pizzeria in der Altstadt empfehlen: der Stopp in der schmalen Gasse lohnt sich. Kühles Bier, das noch in der Kehle verzischt; köstliche Pizza. Über den schlichten Tischen thront ein Fernseher, der mich auf dem Laufenden hält. Für morgen werden 33°-36° angekündigt. Die Frau des Pizzabäckers beginnt hinter der Theke zu stöhnen und der Angstschweiß tritt ihr auf die Stirn: Infernal! raunt sie ihrer Stammkundschaft zu. Man kann sie ja verstehen: ein Leben Seite an Seite mit einem Pizzaofen hat seine Licht-, aber auch seine Schattenseiten.
Mit besten Vorsätzen begebe ich mich wieder hinaus auf die Straße und weiter in Richtung Westen, aber das wohlige Gefühl in Folge dieser Unterbrechung weicht meinen Willen auf. Nun gut, wenden wir also und lassen den Abend auf dem örtlichen Campingplatz ausklingen! Die Rezeption hat geschlossen. Ich ahne nicht, welch Akt tiefer Menschlichkeit dieser Umstand nach sich zieht. Als ich mich duschen möchte, stehe ich vor verschlossenen Kabinentüren: der Code fürs Schloss ist mir selbstredend unbekannt. Meine Klamotte klebt am Leib - in Gedanken sehe ich mich bereits ins Brackwasser des angrenzenden Kanals eintauchen, als - wie aus dem Nichts - eine Art Engel im Schlabber-T-Shirt auf mich zukommt und den Code eintippt. Kaum dass ich ein überwältigtes Merci hinhauchen kann, entschwindet sie wieder zu ihren Lieben, die sich rund ums Familienzelt tummeln.
Frisch geduscht folge ich in der einbrechenden Dunkelheit zu Fuß dem Kanal bis ins Zentrum. Boote liegen vertäut an der Anlegestelle. Zehntausende von Motten kreisen daneben um die Straßenlaternen. Es hat sein Gutes, nicht zu sehr im Licht zu stehen.
Geschätzte vierhundert Kilometer trennen mich noch von meinem Ziel. Bei meiner Rückkehr zum Campingplatz steht mein Rad artig neben meinem Zelt, und mir will scheinen, als scharre es schon heute Abend wieder mit den Hufen. Geduld, mein Braver. Wir brauchen Geduld.
Strecke: |
191 km |
Zeit: |
8:31 h |
Schnitt: |
22,5 km/h |
Höhendifferenz: |
1840 m |