Etoy - Grenoble

Samstag, 23. März 2013    


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Als ich zwei Stunden später, um 6 Uhr, erwache, ist die Terrasse in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Es fehlen nur die Cops, die wortlos die Handschellen um unsere Handgelenke zuschnappen lassen. Klack, ab auf die Wache. Kein Grüezi, gar nichts. Ausweis. Randonneur, was?!, würden sie uns anherrschen. Zwei Jahre Haft wären uns sicher, danach die Ausweisung. Für immer.Genf

Wir kommen für diesmal ungeschoren davon. Noch ist kein Polizeiauto zu sehen. Wir verpacken Schlafsack und Isomatte und rücken feinsäuberlich die Tische wieder in ihren Originalzustand. Nur keine Spuren hinterlassen.

Im Morgengrauen halten wir auf Genf zu. Leichter Nebel liegt über dem See, dünnes, rosafarbenes Morgenlicht sucht sich hier und dort seinen Weg durch die Wolken. Die Straßen sind fast verkehrsfrei, dem geschwinden Vorankommen steht auf dem Flachstück bis zur Weltmetropole nichts entgegen. Angesichts des im Zuge der Finanzkrise erschütternden Frankenkurses ergeht zwecks effizienterer Verwendung unseres Reisebudgets der einvernehmliche Beschluss, erst in Frankreich Frühstück einzulegen. Womöglich steht dahinter ganz unbewusst eine Steigerung der auferlegten Qualen, insbesondere in den Momenten, wo mich im Zentrum Genfs Brötchenduft halb um den Verstand bringt. Die Grenze kann nicht weit sein. Ein gutes Karma verlangt, hin und wieder stark zu sein. Wir durchfahren hindernisfrei die Stelle, wo einst ein Schlagbaum die Fahrt nach Frankreich zu stoppen pflegte, aber im nachfolgenden französischen Grenzland findet sich weit und breit keine Bäckerei. Es braucht noch einiges an Geduld, bis wir in einem Bar-Tabac Kaffee und Croissants finden. Es kann nicht schaden, sich in Geduld zu üben - bei der nächsten roten Ampel wird dies uns und unserem Ansehen in der Öffentlichkeit zugute kommen. Brücke auf dem WegNach dem Verlassen der Bar sind dort sämtliche Croissants für diesen Tag vertilgt - leider schlägt auch hier die asoziale Natur des Randonneurs wieder durch. Wir werden noch viel Buße tun müssen.

Im Vergleich zu gestern hat der Frühling nicht den geringsten Fortschritt gemacht. Wolkenverhangener Himmel und Temperaturen, die zu Handschuhen und Überschuhen zwingen. Vor uns liegen die Alpen in ihrem bedrohlich-weißen Glanz. Für die Fahrt nach Annecy wählen wir, des schnelleren Vorankommens zuliebe, die Hauptverbindungsstraße neben der Autobahn.Schluchten und Brücken

Dass wir uns in Annecy für eine gewagte Alternativstrecke in den Bergen entscheiden, werden Kritiker unseres Tuns vermutlich als Akt der Intoleranz gegenüber dem Autoverkehr auf dieser offensichtlich beliebten Strecke werten. Dabei steckt nichts als ein innerer Drang nach Askese dahinter. Wir erfreuen uns an den Ausblicken und der Ruhe, die mit jedem Höhenmeter, den wir uns über die Stadt am Lac d'Annecy hochschrauben, zunimmt. Irgendwann herrscht jedoch Totenstille und ein Ende nach oben hin ist dennoch nicht absehbar - nach jeder Kurve folgt ein neuerlicher Anstieg. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Von Freude kann längst keine mehr Rede sein. Alles lässt darauf schließen, dass nun die Läuterung beginnt.Verpflegungsstation

In Aix-les-Bains stoßen wir wieder auf die Annehmlichkeiten der Hauptstraße. Wir erweisen uns jedoch als stark und fliehen nach einem mittäglichen Halt in einem Café im Zentrum erneut in die einsameren Bergregionen. Dieses Mal erweist sich der Abstecher als leidensarme Variante, um den Niederungen des Rhônebetts zu entfliehen.

Wie der gemeine Anarchist sucht auch der echte Randonneur das Extrem. Er lässt es mit zwei Ausflügen ins Gebirge nicht auf sich bewenden. Ist es Vermessenheit oder der dringende Wunsch nach innerer Umkehr, dass er die nun folgenden Talvariante links liegen lässt, um sich in den Höhenlagen zu verausgaben? Dass er den Col de Granier hochschnauft, wissend, dass ihn dies nicht wirklich voranbringt - allenfalls im Bestreben nach weiterer umfassender Läuterung? In Saint-Pierre-la-Chartreuse, umgeben von den Gebirgsriesen des Massifs de la Chartreuse, müssen wir erkennen, dass wir in die Falle geraten sind. Col de GranierWir sind auf 850 Meter und es gibt kein Entrinnen. Die Nacht bricht an und der erste Regen setzt ein, kalt und unheimlich. Massif de la ChatreuseJeder Weg nach Grenoble führt über weitere Pässe. Sechsundzwanzig Kilometer auf dem Rad inmitten einer eisigen Schneelandschaft können lang sein, mindestens so lang wie eine Tagesetappe auf dem Weg nach Santiago de Compostella, wenn die Kälte unter die Haut kriecht und kaum merklicher Regen in die Klamotten dringt. In dieser schweren Stunde tue ich für all meine Randonneurssünden Buße. Auf der Passhöhe des Col de Porte stoße ich einen Fluch aus. Das wäre nicht nötig gewesen, war doch mein Schuldenkonto just in diesem Moment mutmaßlich ausgeglichen. Ich kann nicht anders - das Böse sucht sich immer seinen Weg.

Unter uns tauchen die Lichter Grenobles aus der Nacht auf. Ein großartiger Moment. In engen Serpentinen stürzen wir uns in die Tiefe. Es ist halb neun Uhr abends, als wir vor einem Imbiss am Stadtrand den Bremsvorgang einleiten, um uns etwas Wärme und Kalorien zuzuführen. Grenoble bei NachtIn unseren kühnsten Träumen waren wir zu diesem Zeitpunkt bereits weit über Grenoble hinaus gewesen, jenseits des Col de Menée mit seinen 1400 Metern, der noch als höchste Erhebung zwischen uns und dem Mont Ventoux steht. Unsere Träume kommen allerdings nicht umhin, sich der Realität zu fügen. Und die sieht anders aus: Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, bei diesem Wetter bis in den Süden durchzukommen, dann allenfalls über die Route Napoléonne, die Hauptstraße Richtung Sisteron.

Als am anderen Stadtende dann schwerer Regen auf uns niederprasselt, zeichnet sich ab, dass auch diese Variante zumindest für heute Abend dem Untergang geweiht ist. Wir schaffen es rechtzeitig, uns in ein Bushäuschen an der Ausfallstraße zu flüchten und den öffentlichen Unterstand für unsere primitiven Zwecke nutzbar zu machen, indem wir dort unser Nachtquartier beziehen. Auf die Überdachung hämmert der Regen, so wie zuvor im Aufstieg zum Col de Porte mein Herz gehämmert hat. Jedenfalls will es mir so scheinen. Auf das Stellen des Weckers verzichten wir in dieser Nacht - jede Stunde Schlaf ist eine gute Stunde. 

 

Strecke:

215 km

Zeit:

11:49 h

Schnitt:

18,2 km/h

Höhendifferenz:

3565 m

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