Donnerstag, 17. September 2009
| Strecke |
Die ganze Nacht tropft es auf mein Zelt - ich habe es dummerweise unter einen Baum gestellt. Umso mehr bin ich überrascht, als mich jenseits der Zeltwand blauer Himmel empfängt. Gestern abend hatte ich noch diverse Sachen ausgewaschen, aber trocken ist natürlich gar nichts. Eine kurze Schrecksekunde ist unvermeidlich, wenn man sich bei acht Grad das klamme Zeug überstreift. Dann heißt es, sich warm einpacken, um ohne Lungenentzündung davonzukommen.
Gegen halb zehn lasse ich den Camping Ayguelade hinter mir, um mich wenige Minuten später in der nächsten Auffahrt warmzufahren. Nach dem Weltuntergangsszenario des gestrigen Abends scheint der heutig Tag wie der erste Schöpfungstag. Wären da nur nicht meine eisigen Fußspitzen.
Der Col de Marie Blanque ist geschaffen für dieses Licht: sattes Grün rings um mich her, sonnengebadete Bergketten. Die unverbrauchte Frische eines neuen Tages voller neuer Pläne: Col de Marie Blanque, Col d'Ichère, Col de Lie und, wenn alles klappt, Col d'Ahusqui.
Mit dem ersten habe ich wenig Mühe, ein langes, kaum befahrenes Flachstück macht ihn zur reinen Genusstour. Jenseits der Passhöhe liegen mir die Ausläufer der Pyrenäen zu Füßen und langsam fange ich an, Abschied zu nehmen. Den Überblick über die bisherigen Höhenmeter habe ich verloren, aber meine Beine sagen mir, dass es genug ist.
Erst recht am Col d'Ichère. Kurz und steil stellt er sich mir in den Weg. Wieder kämpfe ich mit meiner Übersetzung. Kaum zu fassen, dass auf diesem schmalen Sträßchen mehrfach der Tour-Tross drübergehetzt ist. Die spektakulären Pässe scheine ich hinter mir zu haben: die Landschaft ist gefällig. Mir wird klar: auch meine Augen sind gesättigt. Mehr und mehr ist es die Vorfreude auf den Atlantik, die mich antreibt: die Sehnsucht nach der Horizontalen, die Abwesenheit jener Grenzen, wie sie die Berge seit Menschengedenken darstellen.
Col de Lie ist eine Steigerung des vorherigen Passes - noch kürzer, noch steiler. An allen Ecken und Enden wird an Asphalt gespart. Oben stehen Picknicktische im Halbschatten. Die Dekadenz hat auch an diesem einsamen Flecken Einzug gehalten: einer der Tische ist mit Pferdeäpfeln belegt, neben dem anderen liegt ein Kondom, gebraucht. Was mich weniger stört, als die Wolken, die sich nun vor die Sonne schieben. Sofort kehrt die Kälte zurück, obwohl ich mich nur auf sechshundert Metern befinde.
Nach St. Jean-Pied-de-Port führen zwei Strecken: die eine über den unbedeutenden Col d'Osquich, die andere über den Col d'Ahusqui. Ich wähle die zweite und kaum nehme ich in Alçay den Weg hoch zum Nordhang des Pic de Vautours, der "Geierspitze", bereue ich meine Entscheidung. Ich kann nicht glauben, dass der Weg so steil ansteigt. Dass muss ein Versehen sein. Ich fahre mehr im Wiegetritt, als dass ich sitze. Bis auf achthundert Meter Höhe soll es gehen, sagt mir meine Karte, aber bei achthundert Metern ist längst noch nicht Schluss. Der Pass will mir endlos scheinen. Ich fluche vor mich hin, ich habe einfach keine Lust mehr. Punkt. Ich will ankommen. Nichts als ankommen.
Besänftigt werde ich erst, als mir die Landschaft mehr und mehr ein Staunen abringt. Dieses kleine Sträßchen, auf dem ich mich eben noch hochgequält habe, wird mit einem Mal umrahmt von Bergflanken, die wie mit dem Lineal gezogen in die Tiefe führen. Fast widerwillig ergebe ich mich dem Charme der Landschaft. Plötzlich kann ich verstehen, dass es Menschen gibt, die vom Baskenland schwärmen. Dazu dieses bedrohliche Nachmittagslicht, das die Dramatik der Kulisse noch steigert. Es hat sich gelohnt.
In St. Jean-Pied-de-Port trifft man allerhand Wandervolk an: von hier startet der Jakobsweg. Nach einem abendlichen Bier im durchaus sehenswerten Stadtkern kehre ich zurück auf den etwas heruntergekommenen Campingplatz. Meine Zeltnachbarn laden mich noch zu einem Becher Wein ein. Auf ihrem Tisch steht ein ganzer Kanister. Die beiden nehmen zweihundert Kilometer auf sich, um hier zu fischen. Noch mehr bin ich verblüfft, als ich höre, dass sie die Fische, die sie an der Angel haben, wieder vom Haken lösen und zurück ins Wasser werfen. Die Brocken, die sie fangen, sind ordentlich, sie zeigen mir die Fotos des Tages. Die beiden machen keine halben Sachen. Auch beim Trinken nicht. Bevor meine französische Aussprache allzu viel Schaden nimmt, verabschiede ich mich aufs Herzlichste von den beiden.
Strecke: |
105 km |
Zeit: |
6:19 h |
Schnitt: |
16,6 km/h |
Höhendifferenz: |
2240 Hm |