Montag, 20. Juni 2016
Von der Hauptstraße Castillons aus sehen wir heute zum ersten Mal das schneebedeckte Hochgebirge, und aller Gram ist zusammen mit dem Grauschleier des gestrigen Tages verschwunden. Vielleicht haben die jungen Männer in ihren schneeweißen Kutten ja doch für den meteorologischen Durchbruch gesorgt. Im Glanz des neuen Tages scheint alles frisch und jungfräulich, abgesehen von meiner Sonnenbrille, deren Bügel abgebrochen ist, was sich jedoch mit einem Tropfen Sekundenkleber aus dem Supermarkt beheben lässt.
Kurz-kurz, wie der Radfahrer so treffend sagt, verlassen wir den Ort: kurzes Trikot, kurze Hose, und den Col de Portet d‘Aspet vor dem inneren Auge. Von der Ostseite ist der Pass ohne allzu große Schwierigkeiten zu fahren, es geht recht flach hinein und mit unseren überschaubaren Gepäckmengen kommen wir einigermaßen flott voran, so dass wir das deutsches Paar überholen, das wir gestern auf dem Col de Core bereits getroffen hatten, und nun hieven sie ihr Hab und Gut auf ihren stählernen Rädern bergan, während wir den Umständen entsprechend deutlich leichtfüßiger eine Weile nebenher rollen, uns dann aber von ihnen verabschieden. Dass wir sie schon in Kürze wiedersehen würden, ist nicht abzusehen.
Der Straßenbelag wurde dieser Tage offensichtlich erneuert – in manchen Regionen scheint dafür eine Minimallösung gerade gut genug zu sein: eine Schicht flüssigen Asphalts und dann in rauen Mengen Rollsplitt darüber gekippt. Ein Ferrari kommt uns entgegen, und der Splitt knallt gegen den leuchtend roten Lack. Zu diesem Zeitpunkt ist mir die Schadenfreude allerdings bereits vergangen, da mir ein Steinchen ins Schaltwerk gerutscht ist und so die Kette blockiert wurde, mit der Folge, dass damit die gesamte Mechanik mitgerissen wurde und diese am Ende statt senkrecht nach unten senkrecht zum Himmel stand. Dies war einer der wenigen Momente in meiner Karriere als Radfahrer, wo eine Art Schockstarre von mir Besitz ergriff. Man steht da und versucht, den Schaden in seinem ganzen Ausmaß zu erfassen. Das Schaltauge, aus Titan, ist so weit nach innen gebogen, dass mir fast schlecht wird. Der Schaltkäfig ist bis zur Unkenntlichkeit um die eigene Achse gewunden und die Schaltrollen stehen anarchisch quer zur Fahrrichtung. Ich sehe das Ende der Tour gekommen. Dann mache ich mich an die Arbeit. Es wird ein zeitraubendes Hin- und Herbiegen der Teile, bis es zu meinem eigenen Erstaunen schaffe, die ursprüngliche Form wieder nachzuahmen. Auch gelingt mir, das Schaltauge näherungsweise in seine natürliche Form auszurichten, und die beiden deutschen Weltenbummler, die zwischenzeitlich auch eingetroffen sind, können mir mit einer Schraube aushelfen, mit denen ich eine der Schaltrollen fixieren kann. Nach Abschluss der Reparaturarbeiten bin ich entzückt von meiner Handwerkskunst: sieben von ursprünglich zehn Gängen lassen sich nach dieser Operation wieder ansteuern. Großartig!
Auf der Passhöhe feiern wir meinen Erfolg beim Mittagessen, zu viert, auch das Wetter ist mit von der Partie, später kommt noch ein Schweizer Paar vorbei, das Mädchen mit einem hübschen Korb am Lenker. Auch so kommt man allem Anschein nach durch die Pyrenäen. Die Abfahrt vom Portet d‘Aspet am frühen Nachmittag geht unvermittelt in die Auffahrt zum Col de Menté über. Auch hier liegt überall frisch ausgebrachter Rollsplitt. Ein Rennradfahrer kommt uns entgegen und winkt mit den Armen, um uns vom Weiterfahren abzuhalten. Im selben Moment kommt uns ein Spanier mit seinem Rennrad zu Fuß entgegen. Der Splitt hat ihm die Reifenflanke aufgeschlitzt. Ihm kann ich mit Klebeband zur Hand gehen – die deutsche Handwerkskunst kennt an diesem Tag keine Grenzen. Ob er den weiten Weg zurück nach Spanien damit schafft, muss offen bleiben. Den Ersatzreifen halte ich unter den gegebenen Umständen lieber für uns zurück.
Dieser Vorfall bringt uns ohne großes Nachdenken dazu, die etwas weitere Alternative zu wählen: den Col des Ares, der mit gut 300 Höhenmetern nicht zum Prestige der Pyrenäenquerer beiträgt, aber immerhin zu ihrem schadensfreien Vorankommen, was in diesem Fall eindeutig mehr Gewicht hat.
Den Abend in Bagnères-de-Luchon verbringen wir mit der Suche nach einem neuen Schaltwerk, aber der maßgebliche Radladen hat heute Ruhetag, zudem mit dem Be- und Entladen der Waschmaschine auf dem Campingplatz und einem endlich ruhigen Essen unter den letzten Sonnenstrahlen. Die nach Westen hin angrenzenden Berge sind hoch und so geht die Sonne früh unter und allein mit einem T-Shirt ist es schon bald nicht mehr getan.
Strecke: |
82 km |
Höhendifferenz: |
1400 m |