Montbrun-les-Bains - Bédoin

Montag, 25. März 2013    


| Strecke |
Die Nacht erweist sich als kälter als in den vergangenen Tagen, aber trotz der vier Grad schlafe ich ohne groß zu frösteln. Das Packen geht in aller Ruhe vonstatten - heute haben wir Zeit, es bleiben wohl kaum mehr als 50 Kilometer bis Bédoin, unserem Ziel.

Montbrun-les-BainsBeim Frühstück im Café des Tilleuils muss ich ein ernstes Wörtchen mit mir reden. Wäre es nicht unsere Pflicht gewesen, uns gestern zusammenzureißen und uns, wenn schon nicht über das Chalet Reynard mit seinen 1400 Metern, so doch über die südlichen Ausläufer des Mont Ventoux bis nach Bédoin durchzuschlagen? Unser Ziel trotz 150 Kilometer Bahnfahrt erst am vierten Tag zu erreichen - das ist neuer Negativrekord bei all unseren Versuchen. Waren die Bedingungen in Grenoble wirklich so hart, dass es richtig war, die Herausforderung auszuschlagen und den Zug zu nehmen? Im Nachhinein, zumal jetzt, da sich draußen der blaue Himmel über die Provence spannt, wollen einem die vor Nässe erstarrte Muskulatur, die eisigen Finger, die gefühllosen Fußspitzen des gestrigen Tages als ein vorübergehender, durchaus zu überwindender Zustand erscheinen. Zugegeben: wenn man in der Frühjahrskälte an einem einzigen Tag 210 Kilometer und Dreieinhalbtausend Höhenmeter durch verschneite Bergregionen fährt und sich die halbe Nacht in einer Bushaltestelle schlaflos hin und her dreht, hat man eine gewisse Nachsicht verdient. Für den wahren Büßer ist der Weg zur Vollkommenheit aber nun mal bis zuletzt mit Dornen gepflastert. Wir dagegen haben uns als Weicheier geoutet. Simulanten.

Wirklich verdient haben wir es also nicht, dass zwölf Kilometer später, in Sault, das Thermometer bei dieser Tour das erste Mal über zehn Grad steigt. Die Sonne steht prächtig am Himmel und peitscht uns geradezu hoch auf den Mont Ventoux. Wir folgen, ohne irgendwelche Anstalten zu machen.Mont-Ventoux, erster Versuch

Bis zum Chalet Reynard verläuft die Strecke relativ flach, auch der Wind steht günstig. Gegen halb zwölf überqueren wir die Schranke oberhalb des Chalets - ab hier ist die Straße für den Autoverkehr gesperrt. Schnee liegt zunächst nur an den Straßenrändern, aber der befahrbare Teil verengt sich zunehmend. Rien ne va plusWir durchqueren die ersten Passagen, wo das Rad geschultert werden muss. Die Füße bekommen Kontakt mit dem eisigen Schmelzwasser. Der Wind bläst Eiskristalle ins Gesicht. Auf 1700 Meter über dem Meeresspiegel reift die Erkenntnis, dass es nicht weitergeht. Vier Kilometer Fußmarsch, nur um unsere zweifelhafte Mission zuende zu führen? Es soll dieses Jahr nicht sein, raunt eine Stimme in mir. Schlangengleich windet sie sich aus meinem tiefsten Inneren in die Ritzen meines Bewusstseins. Unausgesprochenes, morbides Gedankengut mischt sich mit dem Sturm und faucht über die Anhöhe.Boin in der Sonne

Das Paradies beginnt eintausend Meter tiefer im Café Le Relais du Mont Ventoux, wo zwei Weingläser mit leuchtendem Rosé in der Sonne blitzen. Rings um uns her Markttreiben. Am benachbarten Käsestand hole ich noch etwas Ziegenkäse. Frisches Olivenbrot aus der Bäckerei über der Straße macht das Ganze zu einem kleinen Festschmaus. In der Dekadenz des Augenblicks sind mir die Umstände herrlich egal. Es ist fast wie Heimkommen nach einem Jahr der Abwesenheit. Ich lasse mich dazu hinreißen, mir einzureden, dass, wäre es eine Selbstverständlichkeit, die Strecke in dieser Jahreszeit in zwei Tagen zu bewältigen, wir uns wieder eine andere, schwerere Strecke suchen würden. Ventoux, zweiter VersuchSo aber: die große Unbekannte, der Zweifel, das Hadern, das Fluchen, das Sich-Fügen und am Ende dieses bescheidene Quäntchen Pilgerglück, das einem nach Tagen wie jenen, die hinter uns liegen, ja doch irgendwie zustünde. Ja, ja.

Dass uns unsere Reise am nächsten Tag tatsächlich noch bis zum Gipfel führen wird, können wir in diesem Moment noch nicht wissen. Die Schneefräse wird kurze Zeit vor uns die Passstraße so weit freiräumen, dass wir nur wenige Hundert Meter durch den Schnee zu stapfen haben, um unser Ziel, den Col de la Tempête, auf 1900 Metern bequem zu erreichen. Dass wir es überhaupt nochmals probieren werden, ist nach den Erfahrungen des heutigen Tages immerhin ein kleines Wunder. Da oben natürlich niemand auf uns warten wird, der uns im Namen einer höheren Macht die Absolution erteilt, werden wir uns eben gegenseitig gratulieren. Über uns liegt nur noch der eisgraue Nebel, der sich in der Bergspitze verfangen hat, und unter uns lockt der große Südenpfuhl des irdischen Daseins. Die Fahrt hinunter wird zu einem einzigen Rausch. Unsere Büßergewänder flattern frech im Wind. Die Zeit der Umkehr ist vorbei. Ab jetzt ist wieder mit dem Schlimmsten zu rechnen.

 

Strecke:

55 km

Zeit:

3:09 h

Schnitt:

17,6 km/h

Höhendifferenz:

1217 m

Gesamtkilometer
(bis Avignon):

701 km

1  |  2  |  3  |  4