Vive la vélorution!

ARA Breisgau: 600 Kilometer     Freiburg, 26. Mai 2012


Diese Handlung dieser Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.

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Nachdem im Breisgau des Jahres 2012 die Organisation eines Brevets denkbar schwierig geworden ist, scheint sich ein Trend in Richtung Randonneursfrühstück abzuzeichnen. Die angesagte Garderobe ist allerdings außergewöhnlich für einen rein kulinarischen Anlass und mir schwant Böses: die an diesem Samstagmorgen anwesenden Herrschaften, gewandet in buntem Tuch aus Lycra und Elasthan, kommen, trotz aller gegenteiliger Beteuerungen, in Wahrheit nicht wegen des liebevoll hergerichteten Frühstücksbüffets. Sie trachten offensichtlich danach, die Staatsmacht zu düpieren und die von Amts wegen veranlasste Absage des Jura-Brevets zu unterlaufen. Und tatsächlich wird es kurz vor acht Uhr wie schon beim 400-Kilometer-Brevet unruhig im Saal jener einschlägigen Gaststätte, wo die Breisgauer Randonneursbewegung vor zwei Jahren ihren offiziellen Ursprung nahm. Schlag acht Uhr beginnt die Aktion des zivilen Ungehorsams. Als gesetzestreuer Bürger möchte man sich am liebsten die Hände vor die Augen halten - nichts sehen, nichts hören. Aber der Sog ist mächtig. Und es dauert nicht lange, da danke ich dem Schicksal, dass auch ich zum Randonneursfrühstück in der nötigen Kluft erschienen bin, um mich den Aktivisten auf ihren Rädern anzuschließen. Vive la vélorution!

Es kann losgehen.Vielleicht zeigen sich darin die Vorläufer einer neuen sozialen Bewegung, die von kapitalismuskritischen Milieus ins Radfahrermilieu übergeschwappt ist. In diesem Kontext wohl ist auch der Ruf zu verstehen, der beim Überfahren der deutsch-französischen Grenze aus unserer Gruppe heraus erschallt: liberté -  Freiheit! Und vor meinem inneren Auge öffnen sich die Straßen mit einem Mal bis zum Horizont, vorbei am Vogesenkamm bis hinunter nach Spanien und Portugal, wo die Jungen genauso wie die Alten gegen die Versklavung durch die Banken auf die Straße gehen, und zur Linken, jenseits der Schwarzwaldhöhen, bis nach Griechenland, wo die Menschen nicht mehr länger bereit sind, die verdorbene Suppe auszulöffeln, die ihnen ihre Machthaber eingebrockt haben. Überall in den westlichen Metropolen stellen Campingfreunde den Zockern der Finanzwelt ihre Zelte vor die Füße und nennen sich Occupy. Im Innersten der Völker brodelt es.im Sundgau

Eigentlich sollte man vor Brevets keine Zeitung lesen und schon gar nichts über irgendwelche Revoluzzer. Zusammen mit der sauerstoffgesättigten Morgenluft vernebelt es die Sinne. Mein aufmüpfiges Herz beginnt mit zunehmender Entfernung von Freiburg vor Freude zu hüpfen und trampelt auf dem Magen herum, der mir wie so oft vor einem solchen Abenteuer das mulmige Gefühl vermittelt, dass es überhaupt nicht möglich ist, eine solche Schlacht zu gewinnen. Das typische Dilemma eines Randonneurs. Wohl auch das typische Dilemma eines Revolutionärs.

OrgeonsIn Wirklichkeit bin ich natürlich nichts als ein braver Radwanderer aus dem Breisgau, der sich an den Naturschönheiten des Sundgaus und des Juras erfreut, keine Fassaden besprüht, keine Geschäfte plündert und seine Schulden pünktlich bezahlt. Es wäre mir höchst peinlich, unseren Akt des zivilen Ungehorsams vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen zu müssen. Man stelle sich vor, auf dem Col de la Vue des Alpes auf 1283 Meter stünden Übertragungswagen aller großen Rundfunkanstalten und wir würden exklusiv zu unserer revolutionären Tat befragt. Nicht allein, dass ich versäumen würde, mir meinen Buff piratenmäßig um den Kopf zu wickeln - nein, die Worte der Freiheit würden mir im Halse steckenbleiben.

Da bin ich geradezu froh, dass uns oben, bei Kilometer 204, nichts als Dunst erwartet, hinter dem der Mont Blanc und Konsorten allenfalls schemenhaft auszumachen sind. Dass ich in Ruhe in der Sonne eine Tasse Kaffee trinken kann, ehe wir unseren illegalen Weg durchs Jura fortsetzen. im Hochtal von La Brévine

Und wieder pocht mein Herz vor Freude, diesmal ganz ungeniert, als wir nach der Abfahrt vom Col de la Vue des Alpes in Richtung Les-Ponts-de-Martel abbiegen, wo sich unsere vielleicht fünfzehnköpfige Schar vom Rückenwind durchs Hochtal blasen lässt. Mit vierzig Stundenkilometern jagen wir auf dem ersten Abschnitt dieser Etappe durch die Hochfläche, ehe das Herz dann unter der Last der Schwerkraft pocht - dort, wo es über die zähen Anstiege hoch nach La Brevine geht.Pause 

Der Abend legt sich über Champagnole, und im kleinen Hotel de la Gare, der nächsten Kontrolle, rüsten wir uns mit Pasta und Cola für die Nacht. Das Restaurant liegt wie ausgestorben neben dem Bahnhof. Kein Gendarm, kein Streifenwagen. ChampagnoleDie Staatsmacht hat nicht das geringste Interesse an unserem Tun. Im guten halben Dutzend brechen wir wieder auf und folgen den Wenigen, die kurz nach unserer Ankunft am südlichsten Punkt der Strecke die zweite Hälfte unseres langen Weges in Angriff genommen haben.der Rückweg

Irgendwann nach Mitternacht, noch vor dem Tal der Loue, hält uns eine Reifenpanne auf. Ich lege mich ins trockene Gras und starre in den sternendurchsetzten Nachthimmel. Der Große Wagen rauscht unbehelligt übers Firmament. Zwar sind kosmischen Gesetze für mich undurchschaubar, aber auf wunderbare Weise fühle ich mich mitsamt meinem Rad, das neben mir in der Wiese liegt, mit ihnen verwoben. Dass ein schlichtes Randonneursfrühstück zu so später Stunde zu solch tiefsinnigen Gedanken führt, ist eine feine Sache. Eigentlich bräuchten wir mehr davon.der Tag bricht an

In wenigen Stunden wird die Sonne aufgehen und wir werden nach einem halbstündigen Schläfchen im Morgengrauen tapferen Herzens die letzten hundertfünzig Kilometer bezwingen. Der Körper wird müde sein und die Gedanken werden nur noch ein Ziel kennen: ankommen. Ich werde mich allenfalls noch flüchtig an diesen magischen Moment erinnern. Dank der kosmischen Gesetze wird die Sonne auch heute wieder ihre Bahn am Himmel ziehen und im Zenith stehen, wenn wir in Freiburg einrollen. Es wird sich alles wunderbar anfühlen, selbst die Beschwerden. Leute von unserem Schlag wären eigentlich für die großen geschichtlichen Umwälzungen gewappnet. Ach, vielleicht schlägt tief in meinem Inneren doch das Herz eines Revoluzzers.

Strecke:

608 km

Höhendifferenz:

6000 hm

Fahrzeit:

22:40

Schnitt:

26,8 km/h

Gesamtzeit

28:42 h

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