Mittwoch, 19. Juni 2002 Ulrichen - Merlischachen

In einem Lebensmittelgeschäft nicht weit vom Campingplatz versorge ich mich mit frischen Brötchen und dem Nötigsten für den Tag. Mein Weg führt mich heute über den Nufenen nach Airolo, von dort weiter über den Gotthard. Ich rechne damit, zur Mittagszeit in Airolo einzutreffen, wenn alle Geschäfte geschlossen sind und um eine Zwangpause zu vermeiden, lade ich schon morgens die übliche Ware in meine Taschen: Brot, Käse, Gemüse, Joghurt und Bananen. Die Unabhängigkeit hat ihren Preis, will sagen ihr Gewicht.

Tau glitzert rings um mich im Sonnenlicht, der Frühstückskaffee dampft, ich könnte ewig hier sitzen, mich ganz dem Zauber dieser Bergwelt hingeben. Noch während ich frühstücke, verlassen zwei vollbepackte Radler nacheinander den Campingplatz. Ich habe sie bis dahin nicht bemerkt. Wir grüßen uns, vielleicht kreuzen sich unsere Wege heute noch.

Schließlich ist auch mein Platz geräumt, es fühlt sich trotz allem gut an, wieder auf dem Rad zu sitzen. Schon kurz nach Ulrichen steigt die Straße an, in den Muskeln hängt noch die Schwere des gestrigen Tages, aber nach und nach kommt die Kraft zurück. Ein großer, italienischer Lkw zieht an mir vorbei, Nufenenzumeist aber bin ich der König der Straße - jedenfalls fühle ich mich als ein solcher. Die Auffahrt mündet in ein offenes, langgezogenes Tal entlang des Flüsschens Agene, steigt gleichmäßig an. Blickt man voraus, sieht man die steile, schneebedeckte Wand vor sich aufragen, von den Serpentinen der Passstraße zerschnitten. Im Sonnenlicht vermischt sich alles zu einer unwirklichen Traumlandschaft, der Radfahrer selbst ist nicht mehr als ein winziger Punkt in diesem Universum, der sich unmerklich nach oben verschiebt. Im oberen Teil ragen die Schneewände oft drei, vier Meter neben dem Asphalt auf. Alles ist perfekt, allein das Wissen, dass dieser Traum mit dem Erreichen der Passhöhe endet, beeinträchtigt das Erleben. Nufenen gletscher

Nach einem solchen Kraftakt ist man dem Himmel in jeder Hinsicht näher und ahnt gleichzeitig die Zerbrechlichkeit des Menschen angesichts dieser Bergriesen. Der Mensch, der es wagt, auf zwei daumenbreiten Pneus in diese Höhen vorzustoßen, auf einem Gefährt, das knapp ein Fünftel seiner selbst wiegt, gerade so viel wie das Gepäck - um sich auf der anderen Seite mit halsbrecherischer Geschwindigkeit ins Tal zu stürzen.

Nach wenigen Kilometern Abfahrt ist es warm genug, um die Jacke wieder auszuziehen und mit der Entfernung nach Airolo schmilzt auch der Teer auf der Straße. Die Stadt selbst erlebe ich als einen glühenden Backofen, durchzogen von Autobahnen, Brücken und Bahnschienen. Es gibt nichts, was mich in den Ort hineinzieht, und so drehe ich gleich wieder ab in nördlicher Richtung, hinauf zum Gotthardpass. Vor einem Haus finde ich einen Brunnen; letzte Gelegenheit, meine Trinkflaschen zufüllen. Im Vorbeifahren sehe ich in der Garage daneben einen Bauarbeiter liegen, wie tot. Er hält seinen Mittagschlaf. Bald schon stoße ich auf die alte Passstraße, die neue ist für Fahrräder gesperrt. Wie zwei ineinander verwobene Bänder schlängeln sich beide nach oben, baulich ist die autobahnähnliche neue Straße durchaus beeindruckend, aber sie verleiht dem Südhang des San Gottardo eine hässliche Fratze, ebenso wie die vielen Kraftfahrzeuge, die zu Tausenden über diesen Berg herfallen. Die alte dagegen ist nahezu autofrei - aber gepflastert. Sich mit Gepäck und acht bar Luftdruck im Reifen ungefedert auf dieser Piste hochzukämpfen, ist eine Tortur. Ungezählte Schläge auf die Handgelenke bei jeder Radumdrehung, die jede für sich Alte Poststraßemühsam erkämpft sein will. Das Rütteln geht durch Mark und Bein. Ich stürze mich förmlich auf jeden geteerten Abschnitt, auf jedes Stück asphaltierte Spurrinne, auch wenn sie auf der Gegenseite verläuft. Über dem ganzen Schauspiel lastet eine drückende Hitze, wie aus einem defekten Wasserhahn tropft der Schweiß von Kinn und Nasenspitze.

Kurz nachdem sich die alte und die neue Straße ein letztes Mal treffen, verlasse ich diesen unseligen Leidensweg, lehne mein Rad gegen die Böschung und krame Brot, Käse, Knoblauch und Joghurt aus meinen Taschen hervor. Es ist bemerkenswert, welche Bedeutung ich der Nebensächlichkeit einer solch ideenlosen Nahrungsaufnahme beimesse. Wenn der Hunger kommt, rückt sie ins Zentrum des Bewusstseins. Archaisches Erleben: Jagen, Essen, Schlafen. Neben einem Wildbach lege ich mich ins Gras. Ich betrachte die Kühe auf der anderen Seite des Wassers und die Kühe betrachten mich. Pause.

Die Fahrt auf den Gotthard ist beschwerlich, nicht allein wegen der Hitze und des Fahrbahnbelags. Zuviel lärmendes, stinkendes Ungeziefer klebt auf den Schultern dieses Riesen, bohrt sich durch seine Eingeweide. Zu viele Demütigungen. Der Berg leidet. Auch ich leide auf den letzten Kilometern. Die Euphorie, die mich am Nufenen noch mit Haut und Haaren ergriffen hatte, ist zu einem verkümmerten Pflänzchen der Hoffnung mutiert - der Hoffnung, dass der Berg bald ein Ende haben möge. Ein Motorrad überholt mich, der Fahrer muntert mich auf: "Stark, ey!" Ich habe die Unart, solche Zurufe gern mit scheinbarer Gleichgültigkeit abzutun, mit einem bitteren Lachen freue ich mich nun aber darüber. Er hat recht. Zwei Pässe zu bewältigen - der letzte davon unter solchen Bedingungen -, ist nicht von Pappe. Ich bin heilfroh, als ich oben ankomme.

Gotthard PasshöheDie Parkplätze sind gesäumt mit Autos, Familien spazieren hierhin und dorthin und wieder zurück, bleiben an den Auslagen der Souvenirbuden stehen, trinken Kaffee auf der Terrasse der Gaststätte, Motorradfahrer stehen in Gruppen am See, lässig rauchend gegen ihre potenten Maschinen gelehnt. Im düsteren Wasser spiegeln sich Wolkenfetzen und das Blau des Himmels.

Obwohl mir die Strapazen in allen Gliedern stecken, bleibe ich nicht länger als unbedingt notwendig. Die Abfahrt verläuft zunächst wieder auf Kopfsteinpflaster, meine Handgelenke beginnen wieder zu schmerzen, ich frage mich, wie lange ich und mein Rad diese Folter durchhalten und bin fast schon entschieden, wieder umzudrehen, um die neue Straße zu nehmen, als das Pflaster endet und in die neue Straße übergeht. Ich atme auf, mein Hinterrad atmet aus. Platten.

Minuten später reihe ich mich in den Verkehrsstrom ein, bremse, wenn die Bremsleuchten der Fahrzeuge vor mir aufleuchten, trete, wenn's wieder läuft. Alles in allem kein Vergnügen. In Andermatt verlasse ich die Hauptstraße, blicke zurück. Lieber St. Gotthard, wenn ich nicht mehr zu dir zurückkehre; es liegt nicht an dir, es liegt an der respektlosen Spezies Mensch.

Gegen eine Wand gelehnt sehe ich das Gefährt eines der beiden Radler, die vor mir den Campingplatz verlassen haben. Ob er auch über den Nufenen und den Gotthard gefahren ist - oder den direkten Weg über den Furkapass? Hier unten ist der Himmel wieder wolkenlos blau, angenehme Spätnachmittagshitze liegt über Andermatt. Ich lade wieder Spaghetti und Bier für den Abend. Nach ungezählten Litern Wasser pur, mit Apfelsaft oder Vitamintabletten, ist die Vorfreude auf letzteres enorm. Noch liegen 1000 Höhenmeter Abfahrt vor mir bis zum Vierwaldstätter See, verteilt auf 25 Kilometer. In Altdorf am Urner See stoße ich auf zwei Kollegen, die mit ihren Rädern von Osten her auf die N2 gestoßen sind, kräftige Typen. Unser Weg ist derselbe, und so beginnt eine Hatz entlang des Seeufers bis Brunnen, wo der Jüngere der beiden westwärts zur Jugendherberge nach Gersau abbiegt. Ich bin so außer Atem, dass ein Gespräch bis dahin kaum möglich war. In der Folge ergeben sich kurze Gespräche mit dem anderen, einem herzlichen Original, denen ich soviel entnehmen kann, dass die beiden aus dem Allgäu kommen, ebenfalls seit Wochenanfang in den Alpen unterwegs sind, nachdem der Jüngere der beiden tags zuvor die 100 Kilometer von Bern gelaufen ist. Er muss Dritter geworden sein. Alle Versuche, selbst Windschatten zu spenden, sind nach kurzer Zeit zum Scheitern verurteilt - aber das wundert mich nun nicht mehr. Vierwaldstätter SeeIch nutze die Gelegenheit und entscheide mich, meinem Kompagnon bis Küssnacht hinterher zu fliegen. Alles, was nach Radfahrer aussieht, wird überholt. Woher ich die Kraft nehme, ist mir schleierhaft. Vor Immensee frisst sich meine Kette zwischen Blatt und Rahmen fest. Verärgert winke ich meinem Weggefährten, der in einiger Entfernung wartet, er solle weiterfahren. Hinterher aber tut es mir leid: ich hätte mich gerne bei ihm für den Windschatten bedankt und für die zusätzlichen Kilometer, die ich ohne ihn nicht gefahren wäre. Mit etlichem Gemurkse befreie ich die Kette und korrigiere ihre Verwindung mit zwei durch die Glieder gesteckten Inbusschlüsseln, die ich in Gegenrichtung drücke. Mein eigenes Tempo ist gemächlicher, ich erreiche Merlischachen, fühle mich wie der Gewinner einer Touretappe. Dass ich nicht mit erhobenen Armen im Campingplatz einrolle, ist alles.

Ein weiträumiger Platz, direkt am Vierwaldstätter See. Selten habe ich ein Bad so genossen, ich fühle mich danach wie neugeboren. Ein friedlicher Abend: die rotgoldene Dämmerung senkt sich über den See, beschließt diesen schweren, berauschenden Tag. Habt Dank, ihr Götter.

 

Strecke

148 km

Zeit

8:06 h

Schnitt

18,2 km/h

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