Mittwoch, 15. Juni 2016
Im Bahnhof von Narbonne ist es unter dem Glasdach dampfig wie im Gewächshaus, aber wir sind endlich da, beschwingt von der Idee, dass wir das Schlimmste nun eigentlich hinter uns haben müssten. Gestern Abend, als wir in Avignon aus dem Zug ausgestiegen waren und die Räder zusammengebaut hatten, kam der erste Schock: das Schaltauge am neuen Rad meiner Frau war ordentlich nach innen gebogen. Da musste ein Ignorant seinen Schrankkoffer draufgestellt haben. An Schalten war zunächst nicht zu denken. Die Sache ließ sich jedoch mit etwas Geschick und Feingefühl beheben und wir machten uns noch in der Abenddämmerung auf zum nahe gelegenen Hotel. Im nächsten Kreisverkehr dann der erste Knall. Der Schlauch ihres Hinterrades war geplatzt. Nun hat man für solche Touren ja gleich mehrere Ersatzschläuche im Gepäck und ein neuer ist für den geübten Schrauber schnell eingezogen. Zwei Platten später stellte sich heraus, dass hinter dem Ganzen eine aufgeschlitzte Reifenflanke steckt. Die defekten Schläuche und die unbrauchbare Decke wandern in den Mülleimer, mit einem Ersatzreifen und dem letzten Materialaufgebot lässt sich die Panne beheben. Das Ganze findet im Industriegebiet statt, vor einem Geschäft für Reifenhandel, wie wir Tags darauf feststellen, aber zu dieser Uhrzeit hätte uns das auch nichts mehr genutzt. Dies war das erste Abenteuer. Danach waren wir einfach nur froh, so verschwitzt wie wir waren, ins Hotelbett fallen zu dürfen, um elf Uhr abends.
Um halb elf vormittags stehen wir nun also - nach einer weiteren zweistündigen Zugfahrt - in Narbonne, wo wir vor elf Jahren mit demselben Ziel – Biarritz an der Atlantikküste – schon einmal standen, diesmal nun allerdings ohne Ersatzschlauch und -reifen. Die erste Richtung wird wohl oder übel zum Gewerbegebiet führen, wo wir uns im passenden Sportgeschäft mit genügend Material eindecken. Und – wo wir schon dabei sind – mit dem Nötigsten für das Mittagessen. Es kann losgehen. Oh Jubel!
Wie den meisten Städte gelingt es auch Narbonne, den Charme seiner Vororte dem Radfahrer aufs Vorzüglichste zu verbergen und glänzt stattdessen mit sattem Verkehrsaufkommen. Es wird nicht lange so gehen, bis dahin hilft nur gelassenes Achselzucken. Die D 105 bringt die Erlösung: eine kleine Straße entlang des Etangs de Berre, einer dieser vom Meer abgetrennten Buchten, die ihre ganz eigene Flora und Stimmung haben. Bei Bages führt ein hölzerner Steg durch die Sumpflandschaft. Auf seinen warmen Brettern lassen wir uns nieder für die Mittagspause, während unsere Füße knapp über dem blau-grünen Wasser baumeln und der Weichkäse in der Sonne des Südens sanft vor sich hinläuft. Den verbleibenden Nachmittag verbringen wir damit, uns mit den kleinen Landstraßen der Corbières anzufreunden. Ruhig ist es hier, wenn man erst einmal genügend Abstand zum Meer erreicht hat, und wir folgen dem Flüsschen Berre, gemütlich und genüsslich, unterstützt von einem leichten Rückenwind, der feine Schleierwolken vor sich herbläst.
Der Chef des Campingplatzes in Tuchan ist ein Irländer, sehr zuvorkommend. Er schleppt für unseren Komfort einen Tisch und zwei Campingstühle quer über den Platz. Die sanitären Anlagen befinden sich auf der Rückseite des Hauptgebäudes, wo er nur selten hinkommt. Dort liegt ein totes Vögelchen im Waschbecken, dem Anschein nach nicht erst seit heute Abend. Auch wir sehen uns außerstande, ihm eine ordnungsgemäße Bestattung zukommen zu lassen, haben wir doch noch unsere Klamotten zu waschen. Auf der Wäscheleine, die daneben aufgespannt ist, trocknen sie angesichts des auffrischenden Windes im Nu, während unsere Gnocchi auf dem Kocher vor sich hindümpeln und wir schon mal unsere Becher mit Rosé füllen. Der Blick schweift über die Corbières in der Abendsonne und wir lassen unseren ersten Tag in aller Ruhe Revue passieren: kein Platten, kein verbogenes Schaltauge – und formidable Pläne für die nächsten Tage.
Strecke: | 62 km |
Höhendifferenz: | 540 m |