ARA Breisgau: 600 km Freiburg, 21. Mai 2011, 8.00 Uhr
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Gute Romane sind so komponiert, dass sich der Spannungsbogen bis zum Ende hinzieht. Nicht anders verhält es sich mit Brevets. Auch sie verlangen einen Rahmen, der nicht nur alles zusammenhält, sondern der armen Kreatur auf seinem Rad dann, wenn's darauf ankommt, einen Rest von jener Hoffnung auf ein glückliches Ende bewahrt, die am Start noch unerschütterlich schien.Einer der großen zeitgenössischen Streckenkomponisten sitzt in Freiburg und arbeitet für die Randonneure im Breisgau. Was er in nächtelangen Sitzungen vor Karten, am Computer und im Fahrradsattel an Sträßchen zu einem Gesamtkunstwerk verknüpft, erfreut die Randonneursherzen bis weit übers Breisgau hinaus. Wobei sich die Sache mit dem Spannungsbogen anders verhält als in Romanen. Es ist nicht so, dass der höchste Berg am Schluss bezwungen werden müsste. Man kann ihn durchaus ins erste Drittel setzen, dorthin also, wo der Genuss noch vorherrschend ist. Das zweite Drittel besteht im allgemeinen aus Leiden. Hier ist der richtige Ort für kürzere, unendlich zähe und nimmer enden wollende Steigungen. Der Schluss schließlich, dann, wenn keiner mehr so richtig ans Ankommen glauben kann, wartet dann mit einem lockeren Rollerstück auf, das die gebeutelten Herzen zum Ende hin nochmals höher schlagen lässt.
Anders als Romane sind Brevets selbstredend nichts für den passiven Genießer. Sie sind vielmehr eine Kulisse für leidensbereite Enthusiasten, die der liebe Gott auserwählt hat, Brevetgeschichte zu schreiben. Eine Geschichte die am Samstag früh um acht Uhr beginnt und deren Ende unabsehbar ist. Sechshundert Kilometer sind sechshundert Kilometer. Da ist nichts dran zu drehen. Sie findet ihre Fortsetzung in den Hügeln des Sundgau, die in der prallen Morgensonne im Gegensatz zu den engen Schwarzwaldtälern den Eindruck der Weite vorgaukeln. Hier spätestens zerreißt das Band zwischen den gemächlicheren und den schnelleren Protagonisten. Jeder schreibt Geschichte im eigenen Tempo.
Brevetgeschichte wird nicht mit Tinte geschrieben, sondern mit Schweiß, im schlimmeren Fall mit Kettenschmiere. Wenn es dem Randonneur bei Kilometer 220 das Schaltwerk in die Speichen nudelt und ihm nichts anderes übrig bleibt, als die Kette auf das große Blatt zu legen und die letzten 400 Kilometer mit einem einzigen Gang, 50 Zähne vorn, 17 hinten, zu Ende zu fahren. Das sind die echten Helden unter uns - nichts für mich.
Ein Brevet lässt sich auch unspektakulärer bewerkstelligen. Man schaltet brav seine Gänge hoch und runter, Gelegenheiten zum Gangwechsel bietet die Strecke im Überfluss. Man verpflegt sich am Nachmittag rechtzeitig in La-Chaux-de-Fonds, um für die Nacht gewappnet zu sein. Zieht im Anschluss lockeren Tritts nach La Vue des Alpes hoch, wo sich, auf 1283 Metern über dem Meeresspiegel, die Alpengipfel im fernen Dunst erahnen lassen. Es gibt Kaffee und Kuchen. Mit fünf, sechs anderen setze ich mich auf die Treppenstufen vor dem Restaurant und harre für ein paar Minuten der Dinge, die uns noch erwarten. Die einen kommen, die ersten fahren wieder weiter. Allzu lange hält es auch mich nicht hier oben. Randonneure sind rastlos, jedenfalls bei Kilometer 204. Außerdem verlangt der Spannungsbogen vollen Einsatz.
Unsere Schweißspur zieht sich hin über das Hochtal von La Brevine, dem kältesten Ort der Schweiz. Phantastische Landschaften, die wir in unserer Gruppe von sechs oder acht Leuten durchqueren. Unser Streckenkomponist hat ganze Arbeit geleistet, wir füllen sein Werk mit Leben. Der Himmel tut sein Übriges dazu: heftige Regenschauer, durchsetzt mit vereinzelten Hagelkörnern verwischen unsere Spuren. Im Big Ben, Pizzeria und Kontrollstelle in Champagnole, darf das Regen-Schweiß-Gemisch antrocknen, während wir auf die Pizza warten. Erst als die Weiterfahrt ansteht, fällt dem Wirt ein, dass der Reporter der Lokalzeitung ja noch einen Bericht über die Verrückten machen wollte, die mit dem Rad 600 Kilometer fahren und in Champagnole Station machen. Ob wir nicht noch ein paar Minuten warten könnten? Wenn's denn dem Ruhme dient...
Ein paar schnell beantworteten Fragen, ein paar Fotos zusammen mit dem kuriosen Wirt und seiner Braut, und schon schwinge ich mich mit den anderen wieder aufs Rad. Die Nacht bricht an. Über uns hängt schwarzes Gewölk, das uns in loser Folge warmen Regen nach unten schickt. Es ist gut auszuhalten. Etwas mehr machen mir die Rhythmuswechsel in unserer Gruppe zu schaffen. Die Nacht macht mich träge. Mir fehlt der Ehrgeiz, mehr aber noch die Kraft, mich mit den Stärkeren aus unserer Gruppe zu messen. Ich möchte eigentlich nur wie ein Diesel gemütlich durch die Nacht tuckern, warten bis der Morgen kommt. Nach Mitternacht lässt der Regen nach. Wir holen unsere Nachweise für die Brevetkarte in Gonsans und in Vesoul, Kilometer 452. Der Morgen dämmert. Ich spüre meine Müdigkeit und mein Nachgeben im Kampf um den Sekundenschlaf. Ich spüre einen gewissen Überdruss, ein Tempo zu fahren, das nicht meines ist.
Der Spannungsbogen hängt ziemlich durch. In einem der steinernen Waschhäuser irgendwo an der Strecke sitzen vor sich hindämmernde Gestalten neben ihren Rädern. Sie sind mir Inspiration.
Die nächste Bushaltestelle wird my home, my castle, my empire. Ich verabschiede mich von meinen Gefährten, zerre meinen Biwaksack aus der Satteltasche, streife mir alle Klamotten über und die Schuhe aus, lege mich auf die Holzbank und stelle den Wecker auf 22 Minuten später. Im Halbschlaf höre ich die eben noch dösende Gruppe an mir vorbeizischen. Dann fällt der Vorhang. Ich weiß nur noch, dass mir herrlich warm war.
22 Minuten Schlaf sind nicht viel, aber sie können den Gang der Dinge verändern. Sie können bewirken, dass man das Gefühl hat, als hätte man acht Stunden geschlafen. Sie können die Nacht vom Tage trennen. Sie können dem Unsiversum direkt Energie entnehmen und in den Körper einleiten. Sie können einen federleicht machen. Sie können einer ersterbenden Geschichte neues Leben einhauchen.
In Romchamp finde ich morgens um sechs Uhr eine Bäckerei, wo auch Kaffee serviert wird. Die Reserven werden gefüllt mit frischen Croissants und heißem Kaffee. Dann breite ich in der Morgensonne meine Schwingen aus und fliege heim - über die Vorbergzone der Vogesen, weiter ins Rheintal bis nach Freiburg. Mühelos. Die Geschichte endet Sonntagfrüh um 10.30 Uhr an einer Tankstelle, wo ich mir den letzten Stempel geben lasse. Die nette Kassiererin sagt, sie könne es sich nicht vorstellen, dass man sechshundert Kilometer am Stück mit dem Rad fahren kann. Man kann es sich nicht vorstellen. Man muss es erlebt haben. Es ist eine von hundert Geschichten, die auf dem Freiburger Jura-Brevet entstanden sind. Am Ende trägt jeder seine eigene im Kopf. Und wird sie hüten wie einen kleinen Schatz.
Strecke: |
610 km |
Höhendifferenz: |
5700 hm |
Fahrzeit: |
22:26 h |
Schnitt: |
27,2 km/h |
Gesamtzeit |
26:32 h |