ARA Breisgau: 200 Kilometer Freiburg, 31. März 2012, 8.00 Uhr
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Unsere Welt wird regiert von Zahlen. Das ist spätestens seit der Finanzkrise nichts Neues mehr. Aber selbst für die primitivsten Dinge wie Radfahren kommt man ohne Zahlen kaum aus. Zu einem gepflegten Gespräch zwischen Radfahrern, die etwas auf sich halten, gehören ganz selbstverständlich Größen wie 27,2 oder 31,6, vielleicht auch 34/27 oder, weitaus schlimmer, 53/11. Für den Laien unverständliches Kauderwelsch. Sogar die Singlespeeder, die sich ihren Weg durch diese komplexe Welt mit einem einzigen Gang fräsen und darin durchaus als wegweisend gelten könnten, kommen ohne - wenngleich bescheideneres - Zahlenwerk nicht aus, das sich meines Wissens meist rund um die Kennziffer 44/16 rankt. Ein weiteres Beispiel gefällig? Daten etwa: 31.3.2012. Der Randonneur im Südwesten Deutschlands wird aufhorchen. War da nicht...? Richtig, da war der 200er in Freiburg.
Der 200er ist das große Familientreffen der Langstreckler - nach fast einem Jahr Pause sieht man sich wieder, um in der Kurzdistanz die Muskulatur vorsichtig aufzuwärmen. Der eine oder andere mag wieder etwas älter geworden sein, am Ende sogar noch etwas vernünftiger, mancher vielleicht etwas schneller, nicht wenige, so ist zu hoffen, auch etwas langsamer. Beim traditionellen Umtrunk am Vorabend sortiert man wieder Namen und Gesichter und freut sich ganz einfach riesig über den Familienzuwachs, der von Jahr zu Jahr stattfindet. Nicht weil der Randonneur an sich übermäßig zeugungswillig wäre - aber die Familie wächst auch so: sie kommen aus dem Breisgau, aus dem Schwabenland, aus der Pfalz, der Schweiz und weiß der liebe Gott woher noch überall. Und tatsächlich gibt es allerhand zu erzählen fernab von jedem Zahlenwerk: über Paris-Brest-Paris und die anderen Brevets, die seither gefahren wurden mit all ihren Höhen und Tiefen.Ob der eine oder andere zum Start käme, wie die Form sei, wie die Pläne fürs Jahr aussähen. Die Zeit am Vorabend vergeht wie im Flug und die einzige Zahl, die wirklich eine Rolle spielt, ist die Anzahl der Weizenbiere, die man am Ende zu bezahlen hat. Eine heimelige Welt, wäre da nicht hin und wieder der besorgniserregende Blick auf die Uhr - denn so ein Brevet will ja nicht nur begossen, sondern schließlich auch gefahren werden.
Ganz klar, zweihundert Kilometer sind für den hochdekorierten Randonneur eine eher lächerliche Distanz, was vielleicht nicht alle 120 Starter genauso sehen mögen - viele neue Gesichter sind am Start. Aber so ist es nun mal.
Schlag acht Uhr setzt sich sich der Tross unter einem mild gestimmten Schäfchenhimmel zügig Richtung Osten in Bewegung, 240 Beine wirbeln in den frühen Morgen, 3500 Speichen flirren durch die kühle Morgenluft, wohl 35 000 Watt werden am ersten heftigen Anstieg nach St. Peter verbraten. Der Gesellschaftskritiker wird dies als reine Ressourcenverschwendung brandmarken - mit dieser Power ließen sich genauso gut systemrelevante Geldinstitute schleifen. Aber der Randonneur als solcher ist in friedlicher Mission unterwegs, er macht nichts und niemanden kaputt. Allerhöchstens, dass er sich selbst kaputtfährt oder eben kaputtfahren lässt.
Lange geht es gut. Locker geht der Aufstieg nach St. Märgen vonstatten, im Wildgutachtal halte ich den Anschluss an die durchtrainierte Spitze, sogar in der 17-%-Steigung, die das Tor nach Freiamt öffnet, muss ich mir keine Blöße geben. Erst als es Richtung Kaiserstuhl geht, habe ich meinen ersten schwachen Moment, lasse eine Lücke reißen, irgendjemand schiebt mich von hinten wieder hin. In Wyhl, der zweiten Kontrolle, bin ich noch bei den Ersten, aber ich mache schon mal Abschiedsfotos von meinen Begleitern, ehe ich, das frisch erworbene Blätterteiggebäck zwischen die Zähne geklemmt, in der üblichen Hektik ein letztes Mal gemeinsam mit ihnen aufs Rad springe. Es war eine schöne Zeit mit euch!
200 Kilometer sind ja wirklich keine große Sache, denke ich, und nach der Hälfte, in den Weinbergen vor Ihringen, gebe ich mich ohne Bedauern geschlagen. In einer Art Übersprungshandlung zücke ich die Kamera und mache ein letztes Bild von den tief gebeugten Rücken und den sehnigen Beinen, ehe sie über die Kuppe huschen. Weg sind sie.
Dann eben alleine. Der Wind kommt jedoch anders als erwartet nicht von hinten, sondern wirbelt rings um mich her. Und schmerzlich wird mir bewusst, dass der Radcomputer, mit dem ich in einsamen Momenten gerne Zwiesprache halte, heute nicht reagiert. Ich kann in die Pedale drücken wie ich will, er zeigt mir stur die Null an. Ihm fehlt der Speichenmagnet, den ich in der Eile des Vortages zu montieren vergessen habe - und mir ein paar Kollegen, die mich gelegentlich aus dem Wind nehmen könnten. So trauern wir beide vor uns hin, während sich die Landstraße unter dem blauen Frühjahrshimmel ins Unendliche zieht. Wieviel Kilometer liegen wohl noch vor mir? Nun, auf der Kurzdistanz wollen wir solche dummen Fragen lieber nicht stellen. Von Zeit zu Zeit kann ich mir aber einen Blick nach hinten nicht verkeifen. Kommt denn da nicht endlich jemand dahergefahren?
Kurz vor Neuenburg, eine Dreiviertelstunde später, ist dann der Moment gekommen wo ein Viererpack heranbraust und mich aufsaugt. Und kaum, dass ich sie alle kennengelernt habe, bleibt der erste von ihnenn auf der Strecke, gottseidank - man verzeihe mir dieses hartherzige Bemerkung - trifft es nicht mich. Mein darniederliegender Bordcomputer irritiert mich zutiefst. Der Kopf vermisst die Gewissheit, dass die Kilometer schwinden, die Beruhigung, wenn das Display die Dreißig anzeigt. Ein merkwürdiges Gefühl, als ob mir die Kilometer geraubt würden. Sind ja zum Glück nur zweihundert...
Der Körper hingegen fühlt sich so an, wie man es spätestens eine Stunde nach der Ankunft verdrängt hat: die Schenkel brennen, die Lungenflügel beben. So schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt. Aber ich will nicht jammern. Schon in der griechischen Mythologie ist von einer Person die Rede, die unablässig Steine auf den Berg rollt, und spätestens seit Camus wissen wir, dass man sie sich als glücklichen Menschen vorzustellen hat.
Mitleid ist also vollkommen fehl am Platz, wenn wir drei am Ende noch Verbliebenen im gnadenlosen Kampf die letzten Reserven verheizen, um die lausigen 200 Kilometer hinter uns zu bringen. Und wie erhebend ist es doch, am Ende festzustellen, dass auch der Randonneur immer wieder zu neuen Erkenntnissen fähig ist, im vorliegenden Fall die, dass Zahlen nicht zählen. Zweihundert Kilometer sind nämlich nicht ohne. Sie sind hart, beinhart. Das erste Brevet ist überhaupt das härteste. Alle anderen sind dagegen ein Kinderspiel, zumal das 300er. Geradezu lächerlich.
Strecke: |
202 km |
Höhendifferenz: |
2100 hm |
Fahrzeit: |
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Schnitt: |
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Gesamtzeit |
7:20 h |