Edinburgh, Montag, 25. Juli 2005, 1:00 Uhr
Zweieinhalb Stunden Tiefschlaf auf einer der Pritschen, dann holt mich die Wirklichkeit wieder ein, Urban rüttelt mich wach. Frühstück um halb ein Uhr nachts, und schon heften wir uns wieder zu dritt auf die Fersen derer, die bereits in der Nacht den Rückweg angetreten haben. Mehr als ein Wettkampf ist es ein Spiel: wer hat die Nase vorn, wer folgt uns? Ein warmer Wind bläst uns über die Moorfoot Hills, der Schein des Halbmondes wirft sein geheimnisvolles Licht übers Land. Mein Magen hat sich etwas erholt. Wie von Zauberhand geschoben rolle ich den zwanzig Kilometer langen Aufstieg hoch, Scheinwerfer der Kollegen kommen uns entgegen, irgendwo über uns geistert ein rotes Rücklicht über das knochenbleiche Asphaltband. Schafe schrecken auf, räumen schlaftrunken die Fahrbahn.
In der Morgendämmerung verlassen wir den ersten Kontrollpunkt auf dem Rückweg, Ettrick. Es ist halb fünf. Hier herrscht eine gemütliche, heimelige Stimmung und es fällt schwer, sich wieder in die Kälte hinauszubegeben, zumal ein schweres, hügeliges Stück auf uns wartet, 1100 Höhenmeter insgesamt auf dem Weg nach Langdon Beck. Aber endlich sind meine Beine so, wie ich es mir vor allem gestern gewünscht hätte: geduldig, gleichgültig, locker. Tritt für Tritt absolvieren sie ohne Murren, wie ein Motor, der läuft und läuft. Sie schieben mich die Hügel hoch und treten in der Abfahrt, Kilometer um Kilometer streift die Landschaft meine Sinne, ohne wirklich wahrgenommen zu werden, die Straßen werden aufgesogen, Kontrollstellen abgehakt. Langdon Beck, Eppleby, Hovingham. Hier treffen wir auf Simon Doughty, den Organisator der diesjährigen Austragung. Ein sympathischer, ruhiger Mensch und Energiebündel zugleich, dem es gelungen ist, diese Veranstaltung des britischen Audax Clubs , die sich über die Hälfte der britischen Insel zieht, aufs Beste zu koordinieren. Thank you, Simon!
Wie viele Kontrollstellen haben wir bereits passiert? In meiner Erinnerung vermischt sich alles, Ortsnamen verlieren ihre Bedeutung; was zählt, sind die Kilometer, die noch vor uns liegen und der Moment: die Beine, die noch wollen, der Wille, der es schafft, die Augen offen zu halten und den Schmerz am Hintern, der immer dann am heftigsten ist, wenn man sich nach einer Pause wieder in den Sattel setzt, zu ignorieren. Wir treffen wieder auf Nick Jackson, den Cambridge-Man. Er hat große Probleme mit dem Antrieb seines Rades und nach 20 oder 30 Kilometern müssen wir ihn zurücklassen. Nicht nur uns hat er auf dem Hinweg viel Arbeit abgenommen, aber wir können uns leider nicht in dem Maße erkenntlich zeigen, wie er es verdient hätte.Irgendwann ist es wieder Abend, und wir verlassen guter Dinge den Thorne Rugby Club bei Kilometer 1118. Das ist mehr als ich nach zweieinhalb Tagen erwartet habe. Ich erinnere mich an die hereinbrechende Nacht. Lincoln ist 76 km entfernt, die richtige Distanz, um dort ein, zwei Stündchen zu schlafen und die verbleibenden 220 einigermaßen ausgeruht abzuspulen. Wir kommen wirklich recht zügig voran, allerdings gibt es bei der Streckenführung immer wieder Zweifel. Sind wir vor zwei Tagen wirklich hier lang gefahren? Ist es nur die Müdigkeit, die unser Erinnerungsvermögen trübt? Die Straße scheint die richtige zu sein, allein die Ortsnamen sind auf dem Streckenplan nicht aufgeführt. Wir halten an, diskutieren, entschließen uns für die Weiterfahrt. Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht – eine sternenklare Nacht; eigentlich sollten wir längst in Lincoln sein. Wir halten wieder an, fragen eine einsame, schwer angetrunkene junge Dame nach Ortschaften, die in nächster Nähe sein müssten. Sie schüttelt ihr müdes Haupt. Merkwürdig... Kurze Zeit später ein hilfsbereiter Mann, der seinen Hund Gassi führt. Auch ihm sind die Namen fremd, dafür kennt er andere nächstgelegene Ortschaften mit schockierenden Namen: Orte, die wir vor über zwei Stunden passiert haben. Irgendwann sind alle Zweifel ausgeräumt: wir sind die letzten ein, zwei Stunden lang im Kreis gefahren und vielleicht 15 Kilometer von unserem Startort entfernt. Ein bitterer Moment.
Jetzt gilt es, sich am Riemen zu reißen, klaren Kopf zu bewahren, aber 30 Kilometer Umweg wollen mental verkraftet werden. Gegen zwei Uhr legen wir uns bei bitterer Kälte in eine Bushaltestelle, gönnen uns eine halbe Stunde Schlaf, bis die Kälte den oberflächlichen Schlaf noch vor dem Weckton abwürgt und nichts anderes übrig bleibt, als den schlotternden Körper wieder aufs Rad zu hieven und in die Pedale zu treten, damit etwas Wärme zurückkommt. Wir überholen eine kleine Gruppe, die während dieser Zeit an uns vorübergefahren ist, fahren auf Lincoln zu. Aber wie zum Teufel kommen wir zur Jugendherberge? Irgendwo am Ortseingang haben wir die Spur verloren, fahren hilflos durch die ausgestorbene Stadt. Kein Zeichen, kein Mensch auf der Straße. Eine weitere halbe Stunde zuckeln wir hin und her. Plötzlich taucht aus dem Nichts ein Kollege auf, wie ein Gespenst, und gibt vor, genau zu wissen, wo die Jugendherberge ist. Auf verschlungenen Pfaden fährt er schweigend in eine komplett andere Richtung. Ich kann mir nicht helfen, aber ich fürchte, der Junge ist der total durchgeknallt. Zehn Minuten später könnte ich ihm um den Hals fallen, als wir vor der Jugendherberge in Lincoln unsere Räder abstellen, sechs Stunden nach unserem Aufbruch in Hovingham, sechs Stunden, die uns genau 76,6 km vorangebracht haben.
Es herrscht reges Treiben hier zu dieser frühen Stunde, große Aufbruchsstimmung, als wir uns, von der Nacht gezeichnet, für eine kurze Stunde in die Kojen legen. Die Starter von London und Thorne vermischen sich hier. Ein schnelles Frühstück, und der letzte Tag beginnt. Der Morgen ist kühl, aber der Himmel ist aufgelockert. Irgendwann spüre ich meinen wundgescheuerten Hintern nicht mehr und die Kraft kommt zurück. Wir halten in etwa unseren 30er Schnitt, während wir auf Thurlby zusteuern, wieder so ein kleiner Ort, der mir nichts sagen will. Einsame Straßen, hügeliges Terrain. Die Erinnerung daran, gerade mal zwei Tage alt, ist weg. Erst die Kontrollstelle selbst ist mir vertraut. Wir halten uns nicht sehr lange auf, 150 km vor dem Ziel befällt einen eine gewisse Unruhe. Also weiter, weiter. Die 80 Stunden-Marke kommt ins Spiel – bei stetigem Tempo könnten wir sie knacken. Aber ich merke, dies ist nicht mein Ding. Ich möchte diese letzten Kilometer nicht bis London hecheln, ständig am Anschlag, mit diesem Druck im Nacken. Ich mache Axel und Urban den Vorschlag, alleine in meinem Tempo weiterzufahren. Wir bleiben zusammen, ist die Antwort. Das macht es mir leichter, auch wenn sich das Tempo kaum ändert.
Gamblingay, letzter Kontrollpunkt. Wieder treffen wir auf Kollegen, die in Thorne gestartet sind und noch rund 400 Kilometer vor sich haben. Axel ist schon wieder startklar, während ich gerade eben meine Brötchen über die Theke gereicht bekomme. Ich schlinge sie hinunter, während Axel sich aufs Rad schwingt, um die Muskulatur warm zu halten. Dann dieses Missverständnis: Urban ist der Meinung, Axel wolle alleine weiterfahren, weil er die achtzig Stunden unterbieten will. Axel jedoch rollt langsam dahin, wartet auf uns beide, und wir lassen uns Zeit. Schlimmer jedoch: kurz nach Gamblingay fahren Urban und ich noch einmal in die falsche Richtung, sechseinhalb lange Kilometer. Dieselbe Strecke zurück... Diese Irrfahrt macht mich im besten Sinne des Wortes rasend. Mein Adrenalinspiegel ist am Anschlag, was meine letzten Kraftreserven weckt. Nur noch ankommen will ich, bin aber bei alledem wach genug, um den Streckenplan nicht einen Moment aus den Augen zu verlieren. Jetzt bloß keinen Fehler mehr. Die widerlich steilen Anstiege zum Ziel, ich drücke sie weg, wie man einen Feind niederringt. Die Vororte von London rücken näher, ein Auf und Ab, Feierabendverkehr, ein Gewirr von Straßen, ein weiterer Fahrer schließt von hinten auf, überholt uns, an der Kreuzung treffen wir uns wieder, jetzt klaren Kopf behalten, jede Kreuzung genau beachten bis wir endlich in die Straße biegen, die zum Ziel führt. Das Ziel, das Ziel.
Ich erreiche es am 26. Juli 2005 um 17.15h Keine jubelnde Menge, die uns erwartet, aber Axel steht da, wir gratulieren uns, Urban und ich holen unseren letzten Stempel. Von den 200 London-Startern haben wir drei, soweit es sich rekonstruieren lässt, die Plätze 9, 10 und 11 belegt: ein respektables Resultat.Exakt 81 Stunden, umgerechnet drei Tage und neun Stunden, für 1417 offizielle Kilometer, tatsächlich waren es etwa 1475. Acht Stunden davon habe ich geschlafen. Urban legt sich in der Jugendherberge erst einmal flach, Axel und ich trinken noch ein Bier zusammen, dann dusche ich, wir kaufen ein, essen zusammen auf den Holzbänken im Freien, stoßen nochmals an. Irgendwann setzt sich auch Simon, der Organisator zu uns, Urban, einigermaßen ausgeschlafen, stößt zu uns, wir sitzen bis zehn oder elf Uhr abends. Ich bin zu müde, um überhaupt noch meine Müdigkeit zu spüren. Und unendlich erleichtert - ein Gefühl, das ich nicht leichtfertig aus der Hand geben wollte. LEL 2005 ist Geschichte.