Donnerstag, 29. Juli 2010
| Strecke |
Für die Zugfahrt von Mulhouse nach Nîmes ziehe ich ein Buch aus meiner Lenkertasche, das ich irgendwo hinten im häuslichen Bücherregal hervorgekramt habe: George Navels 1945 erschienenes Werk Travaux (Arbeit - die deutsche Ausgabe ist vergriffen). Während der TGV nun durch die Vororte von Lyon rast, deren Fabriken das Dekor für die Schilderungen aus der düsteren Welt des Arbeiterdaseins in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts liefern, versuche ich, mir die glutheißen Gießereien und die sinistren, rußgeschwärzten Produktionshallen auszumalen, in denen vor fast hundert Jahren die Männer ihr schmales, kaum zum Überleben reichendes Gehalt verdienten. Der einzige Trost des Daseins war für Navel die Aussicht auf den Sonntag: die Flucht aus dem ohrenbetäubenden Lärm der Fabriken, aus dem Grau der Städte in die Stille der Natur, wo die Lungen frei atmen und die marode Seele neue Kraft tanken kann. In Nîmes sehe ich beim ersten Blick auf die Plakatwände im Bahnhofsviertel: Diese Sehnsucht ist geblieben. Autos und Motorräder posieren in unverbrauchten Landschaften: was zum Verkauf steht, sind Utopien. Seit ich angefangen habe, über diese Dinge nachzudenken, bin ich mir nicht mehr sicher, ob diese Sehnsucht überhaupt mit Motorengewalt zu kurieren ist oder ob letzere nicht vielmehr ihre Ursache ist.
In Nîmes hat es kurz vor meiner Ankunft geregnet. Die Straßen dampfen im Sonnenlicht. War ich noch im Zug unter denjenigen, die mit der Menge ihres Gepäcks Aufsehen erregten (mein Rad reist als Handgepäck), bin ich im Straßennetz Nîmes einer der wenigen Puristen: keine Stoßstangen, keine Heckscheibenheizung, kein ABS. Zwei Laufräder, gehalten von 1650 Gramm Alurahmen, ein bisschen Material zum Lenken, ein bisschen Material für den Antrieb, ein bisschen Gepäck - zuviel, vermute ich, wie immer. Ich konnte es nicht lassen, den Kocher einzupacken, trotz eines straffen Programms: auf meiner Liste steht der Col de la Bonette, höchste asphaltierte Passstraße Europas.
Die Brötchen, die in der Hitze des heutigen Nachmittags zu backen sind, sind kleiner. Zunächst geht es unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Zikaden an den Rhône, den ich bei Tarascon zu überqueren gedenke, weiter zur Durance, südwestlich von Avignon, schließlich in nordwestlicher Richtung hoch bis Bédoin am Fuße des Mont Ventoux. In Beaucaire, das von Tarascon nur durch den Rhône getrennt ist, liegen in einem Seitenarm des Flusses Boote vertäut - wartend auf die Flucht in die Horizontale, in die Weiten des offenen Meeres. Ich passiere eine mittelalterliche Festungsanlage ohne meinen Tritt zu verlangsamen. Das Sträßchen, das mich weiter durch die Provence führt, zählt zu den ruhigeren dieses Tages, ehe an der Durance der Verkehr wieder zunimmt. Man kann im Rhythmus des Tretens wohl seinen Gedanken nachhängen, aber der Verkehr fordert Aufmerksamkeit, der Mistral, der von Norden her ins Gesicht bläst, Durchhaltevermögen. Der Mont Ventoux ist bereits von weitem sichtbar und seine Magie zieht mich in ihren Bann.
In Mazon, bald nach der einzigen Erhebung des Tages, ist Zeit, die Vorräte für den Abend zu beschaffen. Gegen halb acht Uhr rolle ich in Bédoin ein: 100 Kilomter sind fast voll. Ich folge den Schildern zu einem Campingplatz in Richtung des Mont Ventoux, aber als ich nach mehreren Kilometern nichts finden kann, kehre ich bitter enttäuscht zurück in die Stadt. Die Straßencafés sind um diese Uhrzeit berstend voll, und ich habe das Gefühl, dass man mit zwei Gepäcktaschen am Rad von allen Seiten mit neugierigen Blicken verfolgt wird. Der camping municipal liegt auf der entgegengesetzten Seite des Ortes. Die nächste Enttäuschung: complet - alles vergeben an Franzosen, Deutsche, Holländer, die sich mit ihren Autos, Wohnwagen und Wohnmobilen breitgemacht haben. Meine Stimmung ist am Nullpunkt, über den lieblichen Abendhimmel ziehen vor meinem geistigen Auge dunkle Gewitterwolken. Schließlich pfeife ich auf die geschlossene Schranke und das Schild und es gelingt mir, einen Platz ausfindig zu machen, der von einem einzelnen Radreisenden belegt ist. Ich frage ihn, ob es ihm was ausmachen würde, wenn ich mein Zelt... Maarten, ein Holländer, ist ein netter Kerl, der in der dritten Woche mit dem Rad von Luxenburg in die Provence unterwegs ist. Wir haben, während ich meine Pasta koche, genügend Gesprächsstoff. Als ich mein Kochgeschirr spüle, ist es längst dunkel geworden, der Wind hat sich gelegt, Stille legt sich über den Platz.
Strecke: |
104 km |
Zeit: |
4:32 h |
Schnitt: |
22,8 km/h |
Höhendifferenz: |
590 Hm |