Samstag, 1. August 2020
Als ich mich um 3 Uhr 15 wieder für die Weiterfahrt vorbereite, kann ich auf kaum mehr als eineinhalb Stunden Schlaf zurückblicken – die Hitze, das Wasserrauschen und die Stechmücken ließen allenfalls ein oberflächliches Dahindämmern zu. Widerwillig stopfe ich meine Utensilien in die Säcke – wie gerne hätte ich zwei Stunden länger geschlafen...! Die letzten Nachtstunden jedoch sind kühl und mir ist, als versuchten sie mich davon zu überzeugen, dass die verbleibenden 280 Kilometer bis heute Abend ohne größeren Aufwand zu bewältigen seien. Vereinzelt tauchen Scheinwerferlichter auf, späte Heimkehrer oder Frühaufsteher, die sich unter dem weiten Sternenhimmel genauso verloren ausnehmen wie ich. Um diese heitere Grundstimmung zu fördern, gestatte ich mir nach den ersten 50 Kilometern im einsetzenden Tageslicht ein halbstündiges Nickerchen auf einer Parkbank in einem Ort namens Pontlevoy. Aus einem Haus gegenüber der bescheidenen Parkanlage wummert beinharter Blues – die dazugehörige Party scheint in ihren letzten Zügen zu liegen.
Amboise erreiche ich eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang. Beim Anblick der ersten Bäckerei dieses Tages klicken die Füße wie von selbst aus den Pedalen und zehn Minuten später lächelt mich die Schaumkrone eines Milchkaffees milde an und ich verliere mich in Tagträumereien.
Dem Frühstück folgt das Dahingleiten auf der Eurovelo 6 entlang der Loire – es herrscht bereits reger Betrieb auf dem Radweg, was ich nach der Einsamkeit des Vortages durchaus genieße. Man grüßt seinesgleichen mit einer kurzen Geste. Einige sind schwer beladen und rollen bedächtig stromabwärts unter dem grauen Himmel, der sich im ausladenden Gewässer spiegelt.
In Tours tritt die erste Ernüchterung ein. Die Eurovelo schlängelt sich hier zwischen parkenden Autos durch, nötigt den Radreisenden auf Radwege, die ihn mit Schlaglöchern und Unebenheiten wieder ins wirkliche Leben zurückholen. Am Ende bin ich froh, als ich die Flussseite wechseln und die Stadt hinter mir lassen kann. Die letzten zweihundert Kilometer beginnen zunächst harmlos – kupiertes Gelände, das mir vorgaukelt, dass die Strecke nach Nantes ein Spiel würde. Der Westwind hat wieder aufgefrischt, aber ich nehme ihn auf die leichte Schulter: was sollte er mir jetzt noch anhaben können?
Punkt zwölf taucht nach einem Waldstück unvermittelt ein Picknicktisch am Wegesrand auf – eine Einladung, die ich nicht ausschlagen möchte. In ihrer Nachbarschaft befindet sich neben einem Friedhof eine romanische Klosterkirche. Kaum eine Handvoll Besucher verirrt sich während meines Mittagessens hierher, und nach wenigen Minuten verlassen sie den Parkplatz so schweigend, wie sie gekommen sind. Die Stille wird nur unterbrochen vom Zischen einer Dose Bier, die ich bereits seit gestern Abend durch die Gegend fahre. Später strecke ich mich auf der Holzbank aus – von den verbleibenden 130 Kilometern lasse ich mir nicht den Mittagsschlaf rauben.
Mit jedem Kilometer, der dieser Pause folgt, scheint der Wind vom Atlantik her stärker zu werden und die Äste der Bäume und Sträucher beginnen, sich unter seiner Gewalt zu biegen. Als ich bei Angers ein weiteres Mal auf den Loire-Radweg stoße, bricht die Sonne durch, und es ist, als würde sie den Wind noch weiter anfeuern. Meine Strecke führt, statt der Eurovelo zu folgen, bald schon wieder übers Hinterland, das Profil zeigt ein paar Zacken, aber ich denke, mehr als auf hundert Meter steigt die Straße nicht an – was soll da schon Schlimmes passieren? Ich werde eines Besseren belehrt. Was nun folgt, ist der Alptraum eines jeden Radfahrers. Die Straße führt pausenlos hoch und runter, mal zwanzig, mal dreißig, mal fünfzig Meter. Der Wind peitscht mir ins Gesicht und wenn ich versuche, einen Tritt auszulassen, komme ich selbst bergab fast zum Stehen. Ich kralle mich am Unterlenker fest, bis der Rücken schmerzt und schalte in den Kampfmodus. Jeden einzelnen Hügel wünsche ich zur Hölle, angesichts ihrer Gesamtzahl ein nicht zu unterschätzendes Unterfangen. Hinzu kommt ein Verkehr, der mir unerklärlich ist. Ohne Zweifel macht auch der Franzose dieses Jahr Urlaub in Frankreich. Aber warum ausgerechnet hier? Alles hat sich gegen mich, diesen einsamen, schnaubenden Don Quijote verschworen, der wie ein Irrer gegen die Gewalten ankämpft, nur um dieses verdammte Nantes zu erreichen. Unten an der Loire fahren die vielen Radwanderer innerlich jubelnd und frohlockend dem Endpunkt ihrer Reise an der Loire-Mündung entgegen, auch sie in vernichtendem Gegenwind, aber ohne auch nur einen Meter Anstieg und ohne all die motorisierten Touristen, die auf der schmalen Straße nicht selten eine unbotmäßige Eile an den Tag legen, anstatt sich an mir ein Beispiel zu nehmen.
Als ich dreiunddreißig Stunden nach meiner Abfahrt die Hochhäuser von Nantes vor mir sehe und die Brücke über die Loire zur Ile de Nantes überquere, fehlen mir die Reserven, um mich über das Ende der Plackerei zu freuen; irgendetwas ist zu kurz gekommen. Ich habe mein Ziel erreicht – Befehl ausgeführt. Ich bin zu erschöpft, um die Hacken zusammenzuschlagen.
Den nächsten Vormittag verbringe ich mit Freunden in Pornic, sechzig Kilometer weiter westlich. Bei Ebbe schlendern wir entlang der Hafens, wo die Boote im Schlick feststecken. In ein paar Stunden, wenn die Flut zurückgekehrt ist, werden sie wieder munter im Wasser schaukeln. Ich habe Zeit, auch wenn schon morgen Nachmittag wieder mein Zug geht – Zeit, einen Schritt vor den anderen zu setzen, nach den Möwen Ausschau zu halten, die salzige Luft zu riechen, auf den fernen Wellengang zu lauschen. Ich finde es bezaubernd. Ich spüre meine Beine, die sich bis zum bitteren Ende abgemüht haben – bemitleidenswerte Kreaturen! Und in der leichten Brise weitet sich mein Herz und mir ist, als kämen die Kilometer, die ich wie zermürbende Gegner hinter mir lassen wollte, mit jeder neuen Welle als Freunde zurück. Oder zumindest als wohlgelittene Kameraden... Wäre ich ein Boot, es wäre der Moment, wo ich zu schaukeln beginnen würde.
Gesamtstrecke: |
509 km |
Höhendifferenz: |
3750 m |
Schnitt: |
23,0 km/h |