St.-Jean-de-Sixt - Le Mollard

Dienstag, 3. September 2019


| Strecke |
Mein Schlafsack ist für den Sommer ausgelegt und so zwingen mich die überraschenden Nachttemperaturen von etwa 5° irgendwann nach Mitternacht dazu, fröstelnd einen Großteil meiner Kleidung überzustreifen, so dass kaum mehr als Armlinge, Beinlinge und Regenjacke als Kopfunterlage übrigbleiben – Hose,  Trikot und Unterhemd hängen im Bad zum Trocknen aus.

Umso größer ist die Vorfreude auf ein morgendliches Frühstück mit heißem Kaffee und einer Packung feiner Kekse, die ich mir gestern Abend besorgt habe. Die Freude wird allerdings dadurch getrübt, dass mich nach kurzer Abwesenheit ein altdeutscher Schäferhundmischling dummdreist anglotzt, als erwarte er von mir Almosen. Dann sehe ich, dass die verbleibende Hälfte der Kekse fehlt. Der Hund fährt sich mit der Zunge übers Maul und starrt mich unverdrossen aus seinen giftgelben Augen an. Ich atme tief aus, dann ein und dann wieder tief aus. Mein Frühstück werde ich hungrig beenden müssen.

Cod des AravisMit einem Wohnmobilisten unterhalte ich mich, die heiße Kaffeetasse umklammernd, über die Etappe des Tages – er stammt aus Colmar und war dort jahrelang Präsident des Radsportvereins. Als solcher scheint er sich auszukennen, aber die vielen Pässe, deren Namen aus seinem Mund purzeln, tragen eher zu meiner Verwirrung bei als zur Orientierung. Wie auch immer, bis zu den ersten beiden Pässen, dem Col des Aravis und dem Col des Saisies, ist die Route gewiss. Dann wird zu klären sein, welche Abstriche an meinen Entwürfen zu machen sind.

Blick auf Mont BlancDer verbleibende Teil des Col des Aravis zieht sich mit sanften Steigungsprozenten nach oben, unter dem blauen Himmel  ist es ein Genuss, sich entlang der Bergflanke nach oben zu winden und die letzten Kehren zu nehmen, ehe sich in der Ferne, genau gegenüber, der Grand Seigneur unter den Bergen aufbäumt: der Mont Blanc. Ich stehe minutenlang im wärmenden Sonnenschein und lasse mich verzaubern. Ein Rennradfahrer rollt mit seinem Rad an mir vorüber und deutet wortlos auf das Gebirge. Auch so ist alles gesagt.

Der steile Einstieg des Col des Saisies macht zunächst Eindruck auf den unbedarften Radtouristen. Das alles relativiert sich aber mit zunehmender Länge und das ganze 1650 Meter hohe Paket passt mit etwas Wohlwollen in die Rubrik „kinderfreundlich“. Zusammen mit einem Pensionär aus der Region fahre ich den letzten Teil plaudernd Seite an Seite. Ich weihe ihn in meinen Plan ein, angesichts der knappen Zeit die ursprüngliche Strecke über Bord zu werfen, worauf er mir den Tipp gibt, mein Ziel, Moustiers-Sainte-Marie, über Gap anzusteuern. Sein Vorschlag ist an Defätismus nicht zu überbieten: bequemer geht‘s kaum. Die Dämme sind gebrochen.

Albertville lässt sich erstaunlich schnell und komplikationsfrei abfertigen. Auf kleinen Straßen halte ich anschließend auf Saint-Jean-de-Maurienne zu – ein entspanntes Rollen unter der Mittagssonne, den Wind im Rücken. Doch obwohl ich seit dem frühen Morgen meine Mahlzeit mit mir führe, kann ich mich nicht für ein angemessenes Plätzchen für die Rast entscheiden, stets treibt mich der Gedanke, dass noch etwas Besseres nachkommen könnte. Erst um 14:15 Uhr werde ich fündig, eine Bank im Schatten, abseits der Straße, gegenüber der steilen Südwestflanke der Pointe de la Pallaz nebst ihres Bruders, des Grand Coin, die beide über 2700 Meter hoch aufragen. Neben meiner Sitzgelegenheit steht ein Gedenkstein zur Erinnerung an einige Widerstandskämpfer, die von deutschen Soldaten hier ein Jahr vor Kriegsende hingerichtet wurden. Ich stelle mir vor, wie junge Männer mit roher Gewalt an Bäume gefesselt wurden, ihre Augen, die nicht von ihrer Heimat lassen können, weit aufgerissen und der Mund so trocken, dass sie nicht in der Lage gewesen wären, ihre Schergen anzuspucken, selbst wenn sie es gewollt hätten. Schließlich streifte man ihnen die Augenbinden über, wahrscheinlich um die Schützen vor den schlimmsten Alpträumen zu bewahren. Ob diese je zur Rechenschaft gezogen wurden? Dieses schlichte steinerne Denkmal ist wie eine offene Wunde inmitten dieser imposanten Landschaft.

Wie die eine oder andere Stadt, durch die im Sommer der Tross der Tour de France rollt, begrüßt auch Saint-Jean-de-Maurienne seine Rad fahrenden Gäste mit dekorierten Rädern entlang der Hauptstraße, was fast vergessen lässt, wie sehr sie dem Durchgangsverkehr von und nach Italien ausgeliefert ist. Kurz nach fünf zeigt die Uhr bei meiner Durchfahrt – Zeit genug, denke ich, den nächsten Pass in Angriff zu nehmen, den Col de Croix de Fer – mutmaßlich der höchste Pass auf meiner Route.

Ich folge der Arvon entlang ihres Flusslaufes flach ansteigend nach oben. Dann plötzlich wird es ernst: 10 Prozent Steigung verkündet die Hinweistafel am Straßenrand für den nächsten Kilometer, dann neun, dann acht. Danach werfe ich einen Blick auf das Display meines Navis und stelle fest, dass der Weg zwar herausfordernd und schön, jedoch leider der falsche ist. Interdit aux velosZwar käme ich auch auf diesem Weg zum Col de Croix der Fer, aber mit dem beträchtlichem Umweg über den Col de Mollard und vielen Höhenmetern extra. Ich bleibe merkwürdig gelassen, fahre die 300 Höhenmeter brav zurück ins Tal und nehme dieses Mal die richtige Abzweigung, die mich gleich mit einer deftigen Rampe begrüßt. Dahinter wartet eine Straßensperrung auf mich – ausdrücklich auch für Radfahrer. Wie in einem schlechten Traum wird als Umleitung auf den Col de Mollard verwiesen. Und schon mühe ich mich ein zweites Mal an den Steilstücken, die ich, eben noch in den Bremsen hängend, talwärts gefahren bin, und das in einer Seelenruhe, die mir fast schon unheimlich erscheint.  Sollte ich in dieser grandiosen Landschaft das Lamentieren verlernt haben?

Bis ich oben auf dem Col der Mollard mit seinen 1638 Metern ankomme, neigt sich der Tag seinem Ende zu. Col de MollardHinter mir liegen zahllose Serpentinen, die Hoffnung auf eine warme Mahlzeit in Albiez-Montrond und die Erkenntnis, dass in Wintersportorten diesen Schlages im Sommer nichts zu holen ist. Über all dem erblüht das Farbenspiel eines spektakulären Abendhimmels in den Alpen. Ich lehne mein Rad ans Passschild und genieße die Ruhe und bin trotz meines knurrenden Magens weit davon entfernt, mit meinem Schicksal zu hadern. Kurz hinter der Passhöhe verweist ein Schild auf eine Gîte d‘Etape, wo mir zuerst eine Dusche, dann ein Abendessen und schließlich ein Bett zuteil werden. Mehr kann man am Ende eines Tages in den Alpen nicht erwarten. Dass ich um zwei Uhr nachts vor Hunger aufwache und behelfsweise mit Erdnussflips und Cocktailtomaten aus meiner Lenkertasche gegensteuere, tut dem keinen Abbruch.

Strecke:

 158 km

Höhendifferenz:

 3500 m

Schnitt:

22,1 km/h

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