Sonntag, 1. September 2019
| Strecke |
Von Freiburg nach Bad Bellingen nehme ich der Einfachheit halber den Zug – Sonntag früh um acht Uhr herrscht hier alles andere als Gedränge und während die Weinberge des Markgräflerlandes draußen vorüberziehen, kann ich in Ruhe nochmals meine Pläne durchdenken: Übers Jura – Maîche und Pontarlier – geht es am folgenden Tag über die Schweiz bis Genf und weiter zu den ersten Pässen hinter dem Genfer See – Col des Aravis und Col des Saisies – und anschließend irgendwie weiter Richtung Süden. Ich phantasiere vom Col du Galibier, vom Col de la Cayolle, vom Lac Serre-Ponçon, aber wer hätte es nicht schon erlebt, dass die hochfliegenden Pläne zu Beginn einer Radtour im Verlauf zurechtgestutzt werden mussten, weil das Rad eben ein Rad ist und sein Besitzer ein Mensch ist und in seinen Eingeweiden kein Automotor vor sich hin heult. Zum Glück.
Angesichts dieses Umstandes werde ich mich bis zum Ziel, Moutiers-Sainte-Marie am Eingang der Gorges du Verdon, den Gegebenheiten fügen und das Wasser, das mir bei dem einen oder anderen Ortsnamen im Munde zusammenläuft, wohl mit einem ordentlichen Schluck aus der Trinkflasche wieder hinunterschlucken müssen – wenngleich ich den Schlendrian nicht heraufbeschwören möchte.
Ich gehe die Sache umstandslos an und halte vom Bahnhof aus mehr oder weniger direkt auf den Rheinradweg zu, ein in diesem Bereich vorwiegend geschotterter, topfeben verlaufender Fernradweg, auf dem mir bereits die ersten Sonntagsradler auf E-Bikes und schwer bepackte Radwanderer, die in nördlicher Richtung unterwegs sind, entgegenkommen. Als Schwerlastphobiker habe habe ich mein Gepäck aufs Nötigste beschränkt und komme mit einer Tasche unter dem Sattel und einer Lenkertasche zurecht, ohne jedoch auf die Annehmlichkeiten wie Zelt, Schlafutensilien und Kocher verzichten zu müssen – das Ergebnis eines jahrelangen Down-Sizing-Prozesses.
Noch vor Basel quere ich den Rhein und finde mich in St. Louis wieder, ein Vorort Basels auf der französischen Seite. Sonntägliche Behäbigkeit empfängt mich auf fast leeren Straßen; hie und da Fußgänger auf dem Weg zur Bäckerei; am grauen Himmel ein Flugzeug, bereit, das Fahrwerk für die baldige Landung auszufahren; Ampeln, die mich mit ihren roten Augen anstarren und mich am Weiterfahren zu hindern trachten; vereinzelte Rennradfahrer, die Hand zum knappen Gruß erhoben. Einer von ihnen nutzt für zwanzig Minuten meinen Windschatten, nachdem er mir an einer Kreuzung am Ende von St. Louis großzügig den Vortritt gelassen hatte. Ich gönne es ihm – verleiht er mir doch das flüchtige Gefühl von Dominanz – und mache keine Anstalten, ihn auf dem welligen Terrain abzuschütteln. Ein bisschen Gesellschaft kann nicht schaden. Irgendwo bei Hagenthal biegt er in eine Hauseinfahrt und bedankt sich netterweise.
Es wird einsam und bergig, je mehr ich mich dem Jura nähere – genau so war es ja auch beabsichtigt. Zuvor mache ich noch Halt in Ferrette. Die Tische vor der Bäckerei sind voll besetzt, an der Theke reihe ich mich für Kaffee und Gebäck in die Schlange der Wartenden ein. Eine halbe Stunde später herrscht Stille, abgesehen von den Fahrzeugen der Sonntagsausflügler, die sich für heute das französisch-schweizerische Grenzland zum Ziel genommen haben.
Bis Saint-Ursanne ist mir das Straßennetz mit all seinen tückischen Anstiegen vertraut, danach zeigt mir das Jura ein bislang unbekanntes Gesicht – kleine und kleinste Straßen, die sich über die Hochebene hinziehen, wo sich dem Südwestwind nicht mehr viel entgegenstemmt. In Maîche, bei Kilometer 115, zögere ich zunächst, fürs Mittagessen hinunter zur Ortsmitte zu fahren, bin dann aber umso glücklicher, als ich um 14:30 Uhr eine offene Crêperie finde, wo mein leerer Magen eine Füllung findet. Der junge, südländisch aussehende Besitzer kann es kaum glauben, dass ich vom Breisgau hierher mit dem Rad gefahren bin – er ist dermaßen beeindruckt von meiner dreistelligen Kilometerzahl, dass er seinen Kumpels, die für einen Kaffee den Kopf durch die Tür strecken, diese gigantische Zahl unter die Nase reibt und mir gleich noch eine Runde Limonade spendiert. Meine Trinkflasche füllt er selbstverständlich nicht mit Leitungswasser, sondern mit Mineralwasser. Ich werde ihn in guter Erinnerung behalten.
Mein Weg allerdings ist hier noch nicht zu Ende, Urlaub hin oder her. Die Strecke bis Pontarlier kann sich sehen lassen, die Höhenmeter sind nicht von schlechten Eltern und der Gegenwind macht seinem Namen alle Ehre. Gegen 18 Uhr werde ich auf dem dortigen Campingplatz vorstellig, um für eine Nacht einzuchecken, und lasse mir gleich noch einen Flyer für einen Pizzabringdienst zustecken. Meine durchaus akzeptable Verfassung erlaubt es mir, einen Ausflug hinunter ins Zentrum zu machen, nach Sichtung der Örtlichkeiten entscheide ich mich jedoch für den Lieferservice, dessen Bote mir um 20:45 Uhr Pizza und Wein durch das Fenster des Gemeinschaftsraums reicht und mit angemessenem Trinkgeld versehen zurück in den Ort jagt, während ich im Beisein eines skypenden Italieners und zwei in ihre Handyspiele vertieften Kids, die sich weigern, der elterlichen Aufforderung zum Zähneputzen nachzukommen, die Pizza zerlege. Bis es bei mir mit Zähneputzen soweit ist, sind die beiden jedoch auch verschwunden, nur der Italiener palavert unverdrossen in das Mikrofon seines Notebooks.
Strecke: |
176 km |
Höhendifferenz: |
2920 m |
Schnitt: |
21,5 km/h |