Freitag, 24.03.2006
Seit zwei Tagen stecke ich in denselben Hosen, im selben Unterhemd, im selben Trikot. Ob meine Haut überhaupt noch atmet, weiß ich nicht. Die Kälte laugt mich so aus, dass ich es nicht einmal schaffe, wenigstens die Hose zu wechseln, so wie ich heute nacht nicht in der Lage war, meine Isomatte einen halben Meter auf die Seite zu ziehen. Zeit dazu hätte ich gehabt, denn die halbe Nacht bin ich mit eisigen Füßen wach gelegen. Es ist ein Wunder, dass ich nicht längst todkrank bin. Ich frage mich, wie die anderen Gäste im Café unseren Geruch überhaupt aushalten. Aber wir sitzen am offenen Fenster und dies ist sicher auch der bester Platz für uns, auch wenn die Morgenkälte ungehindert an uns vorbeiströmt. Schon sehe ich uns wieder im Regen draußen, aber dann wir bestellen uns noch eine zweite Schale Kaffee.
Während wir das Tal der Drôme bei nachlassendem Regen verlassen, wage ich eine eigene Prognose: nach dem Col de la Sausse beginnt der eigentliche Süden mit Sonne und blauem Himmel. Bis dahin sind es allerdings noch rund 30 Kilometer und dazwischen liegt noch der Col du Pas de Lauzun. In Saou, bei Kilometer 20, warten wir, bis die Post um 9.15 Uhr öffnet, um eine Telefonkarte zu kaufen und festzustellen, dass ich offensichlich einen falschen Fünziger im Portemonaie habe. Die aufgeschlossene Dame rät mir, den Schein woanders unters Volk zu bringen. Aus einem Fenster applaudiert uns eine leichtbekleidete Dame, unbeweglich.
Tatsächlich bringt der Col de la Sausse die längst überfällige Wende. Der Himmel lockert auf, die Straße wird trocken, die Temperaturen steigen, endlich, endlich. Seit Saou folgen wir der D 538, ein ruhiges Sträßchen, das erst kurz vor Nyons Verkehr anzieht. Nyons liegt in der Mittagssonne und hat einen ganzjährig geöffneten Campingplatz. Hier will ich bleiben, sage ich. Urban verzieht sein Gesicht, aber am Ende sitzen wir beim Picknick vor unserem Zeltchen und alles ist wunderbar. Auch mein Falschgeld bin ich im Ort losgeworden. Allein eine warme Dusche fehlt mir noch zum perfekten Glück, die aber ist für heute abend reserviert, denn vorher steht noch die Befahrung des Mont Ventoux an. Das ließe sichauch auf morgen verschieben, aber was gemacht ist, ist gemacht.
Noch einmal nehmen wir unsere Räder zwischen die Beine und hauchen ihnen Leben ein. 14 Uhr sind passé und 68 Kilometer bleiben uns über die Südauffahrt bis zur Spitze, aber dass wir die zu sehen bekommen, ist eher unwahrscheinlich. Der Schnee reicht bis in die Niederungen und wir unterlassen den Versuch, die Nordauffahrt zu inspizieren. Von Malaucène nach Bédoin; leichter Anstieg, schöne, waldreiche Strecke. Bédoin: 16° C, letzte Einkäufe, Start gegen 16.15 Uhr, noch 22 Kilometer, dann ist unsere Tour zuende. 22 Kilometer können lang sein. Nach einer Einrollphase kennt die Straße kein Pardon. Bis zum Chalet Reynard gibt es fünfzehn lange Kilometer keinen Moment des Verschnaufens - fastdurchgängig steigt die Straße mit 10 %. Pro Kilometer fällt die Temperatur um ein halbes Grad. Ich lege 34/28 auf, die kleine Übersetzung hält mich warm. Vom Spritzwasser der letzten Tage fängt mein Tretlager an, durchdringend zu quietschen. Ein Alptraum, der mich aus meiner Meditation über das menschliche Leiden reißt. Öl und Wasser darüber - Ruhe... Über eine Stunde sind wir so unterwegs, dann die Linkskurve am Chalet, Nebel deutet sich an, die Straße ist gesperrt. Wir zerren die Räder unter der Schranke hindurch. Der befahrbare Teil der Straße verjüngt sich, Schmelzwasser fließt in Strömen über die Straße, unsere Füße sind längst wieder pitschnass. Dann die erste Passage, die zum Absteigen zwingt. Die Füße waten im Schneematsch. Fünf Grad. Der Nebel wird dichter, plötzlich öffnet er sich, was für ein Spektakel, innehalten, klick, weiter, es wird spät. Ich rutsche aus, die Kette fällt runter, ich ziehe sie mit klammen Fingern übers Kettenblatt, Fußmarsch, egal, die Füße sind längst eisig, aufsteigen, absteigen, schieben, aufsteigen, Nebel, Wind. Um 18.38 Uhr sind wir oben auf 1900 Metern. Urban kramt aus den Tiefen seiner Lenkertasche einen Piccolo. Für was Lenkertaschen nicht alles gut sind! Ein Schluck aus der Pulle bei 3 Grad und auffrischendem Wind; der Nebel wird dichter. Ich ziehe über, was ich dabei habe, es ist zu wenig, aber nun ist er zu spät.
68 Kilomter Heimweg. Der Regen holt uns kurz vor Bédoin ein. Es ist Nacht, als wir im Ort stehen und Urban das Birnchen seines Scheinwerfers auswechselt. Ich stehe daneben mit Schüttelfrost - meine Körpertemperatur liegt irgendwo knapp über dem Gefrierpunkt. Die Szene wird vollendet durch einsetztenden Platzregen - kein gewöhnlicher Platzregen, und auch keiner, der nach fünf Minuten vorbei wäre. Wir könnten ein Bier trinken gehen, aber ich will jetzt nur rauf aufs Rad und mich warm fahren und dann warm duschen. Die Straße hat sich an manchen Stellen zum Sturzbach verwandelt. Ich recke die Faust, fluche gegen die Götter. Mein Ruf wird erhört, aber erst spät. Ab Malaucène hat sich der Himmel ausgeheult. Der Rückenwind jagt uns nach Nyon, weg vom Berg. War es gotteslästerlich, bei diesem Wetter hochzufahren?
Zurück auf dem Campingplatz: auf der Zufahrt zum Zelt steht das Wasser knöcheltief. War da nicht irgendwo eine Ziellinie? Gerne hätte ich jetzt gejubelt, die Hände hochgestreckt bis ans pechschwarze Firmament. Ich unterlasse es.
Die Helden nehmen eine heiße Dusche, sie essen und entkorken eine Flasche Wein. Die Helden sind müde. Sie haben sich ihren Schlaf redlich verdient.
Strecke |
186 km |
Zeit: |
9:09 h |
Schnitt: |
20,3 km/h |
Höhendifferenz: |
3057 Hm |
Gesamtstrecke Freiburg-Nyons (inkl. Mont Ventoux):
Strecke |
765 km |
Zeit: |
33:15 |
Schnitt: |
23,1 |
Höhendifferenz: |
7133 Hm |