Osterdorf, 23. Juni 2011, 10 Uhr
Am Mittwochabend vor Fronleichnam geht der Ärger bereits los: Unwetter über Bayern. Umgestürzte Bäume auf den Gleisen, defekte Oberleitungen; ein Zug, dessen Windschutzscheibe von einem herabstürzenden Ast zerdeppert wird. Es ist der unsrige. Er schleppt sich noch bis Treuchtlingen am Fuß von Osterdorf, dann geht nichts mehr. Alle Randonneure, die nach uns in den Zügen nach Treuchlingen erwartungsfroh dem Osterdorfer Abenteuer, einem 1000-Kilometer-Brevet, entgegenfiebern, sitzen für Stunden fest. Das tut uns leid für sie. Uns hingegen bleibt die Zeit, am Zielbahnhof trocken den noch offenen Supermarkt anzufahren, ehe auch wir die Regenjacken überstreifen, um die letzten Kilometer nach Osterdorf im einsetzenden Regen hochzukurbeln. Unter dem riesigen Baum auf dem Dorfanger liegt ein mächtiger Ast, vom Sturm heruntergerissen und zwischen zwei Wohnmobile geschleudert. Ein würdiger Auftakt. Mein Zelt stelle ich vorsichtshalber in angemessener Entfernung zu allen größeren Bäumen. Die Jacke aber kann im Zelt bleiben - der Regen hat fürs Erste wieder nachgelassen.
Am nächsten Morgen hat sich die Lage zum Glück entschärft. Um die neunzig Randonneure lauschen den Worten Karl Weimanns, der mit seiner Frau Heidi die "Große Acht durch Bayern" organisiert. Fast könnte man denken, sie hätten den Wettergott endlich mal für ihre Sache gewinnen können, aber ernsthaft glaubt daran natürlich keiner. Langjährige Osterdorf-Starter sind gebrannte Kinder, dafür aber härter als alle anderen. Tatsächlich dauert es vom Start weg gerade mal vier Stunden, bis das zarte Blau des Himmels zu einem intensiven Grau mutiert ist. Hinzu kommt etwas Niederschlag, nicht zu viel, aber doch genug, um die Regenjacken aus den Taschen zu zerren. Kurz vorher musste ich mir selbst einen gewissen Respekt zollen bei der Betrachtung, wie furchtlos ich doch der angesagten Regenfront entgegenfahre. Mit dieser geradezu stoischen Gelassenheit sollte man allen schwierigen Situationen des Lebens bis hin zum Moment, wo es endet, entgegensehen. Das wäre ein echtes Ziel für den Rest meiner Tage. Die erste Gelegenheit dazu bietet sich sofort. Meine Regenjacke befindet sich nämlich nicht wie vorhergesehen in meiner Satteltasche. Sie liegt noch im Zelt, während mich hier auf den bayerischen Fluren auf der Höhe Augsburgs tiefdunkle Regenwolken ohne Aussicht auf Entrinnen umzingeln. Aufgeben? Lächerlich. Mein Respekt vor mir wächst ins schier Unermessliche. Wir werden eine Lösung finden.
Die Lösung liegt wohl so zehn Kilometer entfernt in einem Abfallcontainer, als der erste Regen schon wieder nachgelassen hat. Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick, und beim Anblick des Müllsacks in seinem unwiderstehlichen Blau werde ich sofort schwach. Er würde mir passen wie eine zweite Haut. Sein Blau würde in gefälliger Weise mit meiner Hose harmonieren. Ich lasse meine Gruppe vorbeiziehen, wende und kümmere mich um meinen neuen Begleiter. Zunächst einmal muss der ganze Müll ausgeschüttet werden, eine etwas unappetitliche Angelegenheit, aber wie alles hat auch so ein Sack zwei Seiten: die saubere äußere Seite würde nach innen kommen, die Innenseite wird grob gereinigt. Der Regen wird sein Übriges tun. Ich verstaue das wertvolle Accessoire umgehend in meiner Tasche und mache mich auf die Verfolgungsjagd, während ich mein stilles Glück genieße. Soll der Regen doch kommen.
Noch vor der zweiten Kontrolle an einer Tankstelle in Landsberg am Lech fange ich die Guppe wieder ein. Auf den ersten ein-, zweihundert Kilometern eines Brevets herrscht meist geschäftiges Treiben an den Kontrollen. Die einen gehen, die anderen kommen, holen sich einen Stempel, Kaffee oder eine Kleinigkeit zu essen. In seltenen Momenten kann man dabei auch Menschen beobachten, die sich hingebungsvoll ihren Müllsack zurechtschneidern. Tatsächlich trägt er etwas auf, obwohl ich ihn unterhalb der Taille um eine Handbreit kürze. Die dabei freiwerdenden Plastikstreifen werde ich mir später als Wind- und Regenschutz unter die Armlinge ziehen.
Der Regen beginnt zu prasseln, als sich unsere neuformierte Sechsergruppe erneut auf die Räder schwingt. Mein Werkstück kommt also direkt zum Einsatz. Die Wassersäule ist ausreichtend. Die Atmungsaktivität ist zwar schwach, genügt aber angesichts des großzügigen Schnitts. Das einzig wirkliche Problem, stelle ich fest, ist das Knattern direkt an meinen Ohren. Besonders im Gegenwind gleicht der Geräuschpegel dem eines startenden Jumbos. Es ist mir peinlich, die Landschaften zwischen Ammersee und Starnberger See lärmmäßig derart zu verunreinigen, auch wenn die Fremdenverkehrsorte direkt an den Seen bei den herrschenden Niederschlagsmengen wie ausgestorben sind. Tristesse pur. So ist es fast schon wieder ein freudiges Ereignis, wenn ein blauer Müllsack lustig durch die Straßen flattert.
Für Abhilfe sorge ich an der dritten Kontrolle in Bad Tölz. Ich ziehe die Warnweste über und zurre sie an den Seiten fest. Das beeinträchtigt zwar die Atmungsaktivität, aber angesichts der vorhergesagten nächtlichen Temperaturen wird dies sicherlich kein größeres Problem sein. Die Plastikstreifen klemme ich mir der Länge nach unter die Armlinge. Um 19.10 Uhr ist alles perfekt. Im selben Moment schiebt sich kurz die Sonne durch die Wolken. Nicht lange danach öffnen sich die Schleusen wieder.
Als der Zeitpunkt der Weiterfahrt naht, bemerke ich an der Zapfsäule einen Taxifahrer, der sein Taxi barfuß betankt. Seit elf Jahren habe er kein Schuhwerk mehr an den Füßen getragen, bekundet er auf Nachfrage. Es klingt ziemlich glaubhaft und mir kommt der Gedanke, dass meine Übung, ohne Regenjacke im Bayerischen eine Langstrecke zu fahren, noch gesteigert werden könnte. Manche zählen unsere Leidenschaft, Hunderte von Kilometern nonstop mit dem Rad zu fahren, ja zu den Extremsportarten. Ich will niemanden auf dumme Gedanken bringen, aber nach dieser Begegnung weiß ich, dass nach oben hin noch Luft ist.
Wer nie ein Osterdorfer Brevet im Starkregen gefahren ist, kann sich nur schwer in die Welt eines Demenzkranken einfinden. Der Regen prasselt auf die Brillengläser und dahinter. Grau verschwimmt mit Grau. Die Welt um einen herum zerfließt. Bedeutungen gehen verloren, alles Sinnhafte löst sich auf. Treten und Bremsen werden vom Stammhirn übernommen. In diesem Seelenzustand muss es nicht verwundern, wenn plötzlich eine Polizeistreife mit Blaulicht heranrast und die Gruppe von Radfahrern zum Stoppen bringt. Ob wir nicht bemerkt hätten, dass wir zwei rote Ampeln überfahren hätten? Ich stammle etwas von auf den Streckenplan geschaut und Straßen gesucht, keine Ampel gesehen, und so weiter. Und alle anderen hätten die rote Ampel auch nicht gesehen? Betretenes Schweigen in der Runde.
Am Ende haben wir es vermutlich dem Schamgefühl der beiden Bad Tölzer Polizisten zu verdanken, das es nicht zulässt, einem Menschen, der bei Regen im Müllsack durch ganz Bayern radeln muss, auch noch Geld abzuknöpfen.
Die großartigen Momente des Tages haben wir uns für den Abend aufgespart: Abendrot und Voralpenlandschaft zwischen Tegernsee und Chiemsee. Autofreie Straßen. Anstiege, die so schön sind, dass sich jeder Meter lohnt. Ankommen auf den Kuppen, der Blick in die Weite, ehe das letzte Tageslicht verschwindet. Eine Pizzeria, wo sich der Wirt eine Stunde vor Mitternacht bereiterklärt, diesen verrückten Kerlen auf ihren Rädern noch etwas Ordentliches zu Essen zu machen.
Die Nacht vergeht zwischen Anstiegen und Abfahrten. Irgendwo bei Vilsbiburg setzt die Morgendämmerung ein. Magische Augenblicke, denen auch die schweißtreibenden Auffahrten nichts von ihrer Schönheit nehmen können. Erst nach dem Frühstück um halb sechs Uhr auf einem Autohof in Wörth wird das Leben wieder profan.
Berufsverkehr kommt auf und ein Wind, der nicht die geringsten Anstrengungen macht, uns zu unterstützen. Inmitten dieser ländlichen Idylle rund um die Donau bei Kelheim treibt er sein Spiel auf die Spitze. Wir fahren gegen eine Wand. Wäre ihr mit einem Vorschlaghammer beizukommen - unser Sextett würde alle Kraft aufbieten, sie in tausend Stücke zu zerschlagen. So aber hilft nur, sein Haupt zu beugen, sich vor seiner Gewalt wegzuducken, den nächsten Hügel hochzuwuchten und mit einer gewissen Beunruhigung mitanzusehen, wie er das letzte Quäntchen Energie aus dem Leibe saugt. Ab Kelheim bleiben uns noch hundert Kilometer bis zum Ende der ersten Runde und mit jedem quälenden Kilometer wächst die Macht der Stimme, die in mir nach dem Sinn des Unterfangens fragt. Sie beginnt, mit dem Wind um die Wette zu brüllen. Wozu, wozu?
Nach sechshundert von tausend Kilometern kehrt man zurück nach Osterdorf, ehe man die zweite Schleife von vierhundert Kilometern in Angriff nimmt. Die Sinnfrage ist nicht beantwortet, als ich schweren Schrittes nach knapp 30 Stunden Wegstrecke am Nachmittags die Stufen zum Sportheim nehme. Sie ist nicht beantwortet, als ich mich mit vollem Bauch ins Zelt lege, um mir die ersten eineinhalb Stunden Schlaf seit gestern früh zu gönnen. Sie muss offenbleiben, als ich danach zusehe, wie sich der eine oder andere wieder auf den Weg macht, um die nächsten hundert Kilometer Gegenwind auf sich zu nehmen.
Andere haben aufgegeben, weil sie ein Problem haben: eine gerisse Kette oder eine Entzündung in der Achillessehne.
Im Vergleich dazu bin ich ein Luxusrandonneur - frei von Schmerzen, frei von technischen Defekten. Und zudem nun auch wieder im Besitz einer Regenjacke, die ich mitführen könnte. Aber das alles reicht nicht. Man braucht den Willen, die Sache zuende zu führen, und den kann man sich nicht aus einem Müllsack am Wegesrand schneidern.
Was letzteren anbelangt, so dürfte er seine Reise zwischenzeitlich ebenfalls beendet haben. In meiner Souvenirkiste war kein Platz für ihn. Man mag mich für herzlos halten, aber ich habe ihn seiner Bestimmung zugeführt.
Strecke: |
617 km |
Höhenmeter: |
verdammt viele |
Fahrzeit: |
24:36 h |
Schnitt: |
25,1 km/h |
Gesamtzeit |
29:30 h |
Video vom Brevet auf youtube