Paris, Guyancourt, 18.-22. August 2003, 20.00 Uhr
"Einmal und nie wieder", höre ich den Fahrer neben mir mit tonloser Stimme stammeln. Durchgefroren bis aufs Mark, den stieren Blick auf die Straße geheftet, hängt er entkräftet auf seinem Rad, das ihn weiter zieht, weiter Richtung Paris, über den gewundenen Asphalt, den nur spärliches Scheinwerferlicht ausleuchtet. Es ist Donnerstag, ein, zwei Stunden nach Mitternacht, eine kalte Sternennacht bei 8° C, und das Feuer in den fünfzehn, zwanzig durchtrainierten Körpern rings um mich herum ist bis auf einen Rest von Glut heruntergebrannt, immer wieder aufs Neue angefacht von letzter Willenskraft, durchzuhalten bis zum nächsten Kontrollpunkt, knapp zweihundert Kilometer entfernt vom Ziel in Paris. Dort werden die einen für zwei, drei Stunden in einen traumlosen Schlaf fallen, die anderen nach kurzer Verpflegungspause wieder unter Schmerzen auf ihr Rad steigen.
Seit Montag Abend, dem 18. August, 20 Uhr - ein sonniger, warmer Tag - sind wir unterwegs, um die Strecke von über 1200 Kilometern unter die Räder zu nehmen, um zusammen mit insgesamt 4000 Amateursportlern aus aller Welt unsere Leidensfähigkeit auf die Probe zu stellen und die Grenzen des Körpers auszuloten. Um Teil des Mythos zu werden, der diese Tour umrankt. Seit Sonntag bewegen wir uns im Spannungsfeld dieses Abenteuers, Axel, mein Begleiter aus Freiburg und ich. Wir haben um 17 Uhr die Fahrzeugkontrolle im Stadion von Guyancourt, dieser gesichtslosen Trabantenstadt, hinter uns gebracht, in einem billigen Hotel in Coignières bis weit in den Morgen hinein geschlafen, eingekauft, gegessen und nachmittags noch einmal, im nahe gelegenen Park, geschlafen so gut es ging. Haben uns gegen 18 Uhr, ins Getümmel begeben, uns dem Gedränge ausgeliefert, als die verschiedenen Startergruppen gebildet wurden, und sind endlich, mit der zweiten Gruppe kurz nach acht bis zum Start vorgerückt.
Mit einem Tempo von rund 40 km/h brausen die Fahrerfelder anfangs über die Vorortstraßen von Paris nach Westen, in die Dämmerung hinein, bis sie die Nacht verschluckt und Tausende von roten Leuchtpunkten kilometerweit die Straßen säumen. Angetreten als Randonneur, der eine Zeit von achtzig Stunden anvisiert, glaube ich mich auf der falschen Veranstaltung: wie viele Körner werde ich wohl schon bis zum frühen Morgen verschossen haben bei diesem Höllentempo in der Dunkelheit, wo mit höchster Konzentration gefahren wird, um nicht zu kollidieren, um sofort jedes Loch zuzufahren, das schon einen kurzen Moment später irreparabel werden kann. Wie lange werden sich meine Gelenke diese enorme Belastung gefallen lassen? Die Gruppen sind anfangs riesig, mehrere hundert Fahrer stark, mit den Kilometern brechen aber mehr und mehr Fahrer hinten weg.
Mortagne-au-Perche, den ersten Kontrollpunkt bei Kilometer 141, erreichen wir gegen Mitternacht, applaudierende Zuschauer empfangen uns; Zeit für einen schnellen Imbiss und Kaffee, ehe es nach wenigen Minuten Pause weiter geht: es gilt, den Anschluss an die Gruppe nicht zu verpassen, jede nachfolgende Gruppe könnte langsamer sein. Dieses Denken erscheint mir als glatter Wahnsinn angesichts der Strecke, die vor uns liegt, aber mir fehlt der Mut, mich dem Spiel zu widersetzen. Morgens um halb acht, in Fougères, liegen bereits über dreihundert Kilometer hinter uns, bei einem Schnitt von etwa 31,5 km/h. Die Nacht fordert ihren ersten Tribut: gerötete Augen starren aus übernächtigten Gesichtern, Köpfe fallen auf die Tischplatten, die Gespräche beim Kaffee werden einsilbig. Aber wer die Strecke auf Zeit fährt, lässt sich auch hier nicht gehen: noch liegt mit den Hügeln der Bretagne der größte Teil der knapp 5000 Höhenmeter des Hinwegs vor uns.
Noch einmal bin ich stark und sitze auf, und fühle mich doch schwach und erschöpft. Mit Theo, einem Engländer von hundert Kilo Kampfgewicht, der nahezu alles auf dem großen Blatt tritt, und einer Gruppe von Bretonen befinden wir uns in einer leistungsstarken Kampfsporttruppe. Max, der Kapitän der Bretonen, Mitte sechzig, schnauzbärtig und mit Piratentuch, führt das Peloton mit eiserner Hand und scheut sich nicht, selbst Hand anzulegen, wenn es darum geht, jemandem klar zu machen, wann er ein Loch zuzufahren hat. Mit seiner Trillerpfeife ruft er jeden Widerspenstigen zur Ordnung. Theo nennt ihn "the busdriver". Er hat sich vorgenommen, seine Mannen bis Donnerstag 13.00 Uhr, also in fünfundsechzig Stunden, durchs Ziel zu bringen. Ich bewege mich im roten Bereich, selbst an den Anstiegen, wo ich mich immer stark glaubte, scheinen meine Beine wie gelähmt. Aber ich bleibe dran; bleibe dran, als wir um halb elf in Tinténiac einen viel zu kurzen Stopp einlegen, gerade lange genug, um die Formalitäten - das Kontrollheft abstempeln lassen und die Chipkarte durchs Lesegerät ziehen - zu erledigen; lange genug für Kaffee, Sandwich, Klo und Befüllen der Trinkflaschen, aber nicht dazu angetan, Kraft zu tanken. Ich beginne, am Sinn dieser Veranstaltung zu zweifeln: Hetze auf dem Rad, Hetze in den Pausen. Wo bleibt die Landschaft, wo das Vergnügen, sich beim Pedalieren im Saft zu fühlen?
Ist dies die Tour, worauf ich mich all die Monate gefreut habe? Noch einmal schließe ich mich der Gruppe an, schinde mich vorn im Wind für meine Daseinsberechtigung und schinde mich hinten beim Schließen etwaiger Lücken.
Mit den Stunden wird der Mensch auf seinem Rad selbst zur Maschine, gegen alle Vernunft, gegen allen Widerstand des erlahmenden Körpers tritt er in die Pedale, in einem ewigen Rund, zehntausendmal, fünfzigtausendmal, um weiter zu kommen und immer weiter, Meter um Meter, Hügel um Hügel, Kontrollstelle um Kontrollstelle. Er tritt, bis endlich noch vor Sonnenuntergang der Roc Trévézel, die höchste Erhebung der Bretagne, überwunden ist und der Fahrtwind bei der Abfahrt noch einmal die müden Geister weckt, ausreichend, um keuchend die letzten giftigen Anstiege vor Brest zu nehmen, um bei Einbruch der Dunkelheit den kurzen Moment zu genießen, wo das Meer vor uns aufblitzt, um endlich um zehn Uhr abends in Brest vom Rad zu steigen, zu duschen, zu essen und sich für wenige Stunden in eines der hundertfünfzig Feldbetten zu legen, zu kurz, um sich zu erholen, aber lang genug, um wieder die Kraft zu finden, morgens um vier den Lenker zu halten und den Beinen wieder ihren Rhythmus aufzuzwingen. Der Zähler im Kopf wird auf Null gestellt.