Mittwoch/Donnerstag, 22./23. August
Brest, 2.30 Uhr. Als ich mir die Ohrstöpsel entferne, glaube ich mich in einen Saal für experimentelle Musik versetzt: es ist ein Sägen, Husten, Schneuzen und Trompeten, dass ich mich wundere, wie hier überhaupt jemand schlafen kann. War der Saal mit seinen mehreren hundert Feldbetten vor drei Stunden noch fast leer, sind die Betten nun weitgehend belegt. Mir schaudert davor, wieder in meine nassen Klamotten zu steigen, aber was bleibt mir anderes übrig?
Eisern hole ich mir wieder meinen Becher Tee an der Imbisstheke, auch wenn mir Kaffee tausendmal lieber wäre. Als Belohnung bin ich bald schon wieder recht munter, jedenfalls den Umständen entsprechend. Fast eine Stunde hängen wir noch ab, mit dem üblichen Kleinkram beschäftigt. Währenddessen stakst Urban Hilpert in die Halle. Bis jetzt hat er ohne Schlaf durchgehalten, hier will er sich etwas aufs Ohr legen. Also klettern wir wieder zu zweit auf unsere Räder, feuchte Kälte kriecht sofort wieder in die Klamotten, als wir im Schutz der Nacht Brest über breite Straßen verlassen. Es ist halb vier Uhr morgens, zum zweiten Mal fahren wir der Morgendämmerung entgegen.
Bis wir den Roc'h Trévézel erklimmen, hat sich wieder eine Schar Mitstreiter um uns versammelt. Eine gut ausgebaute Straße nimmt der Abfahrt in der Dunkelheit ihren Schrecken.
Carhaix-Plouguer, 7.03 Uhr. Nach dreieinhalb Stunden Fahrt erreichen wir bei Tagesanbruch wieder Carhaix. Kreuz und quer liegen die ermatteten Körper auf den Gängen und entlang der Wände, Köpfe liegen auf den Tischen. Was treibt uns Randonneure, dass wir fahren bis zum Umfallen? Kann man von einem Außenstehenden dafür Verständnis erwarten? Angesichts der Menschenmassen ist es ein langes Prozedere, bis ich meinen Becher Tee und frische Croissants vor mir habe. Immerhin: mein Appetit ist ungebrochen.
Der Himmel ist grau aber trocken. Mein Knie ist nicht schlimmer geworden und die Zuversicht wächst, dass es mich zurück nach Paris bringen wird. Eine halbe Stunde sind wir wieder unterwegs nach Osten, als mich die Müdigkeit einholt - wie ein Hammerschlag auf den Kopf. Mein oberstes Ziel ist, heil anzukommen. Also legen wir einen abrupten Stopp am nächsten Feld ein, rollen die Biwacksäcke aus. 17 Minuten Schlaf gewährt uns Axel, dann werden die Biwacksäcke wieder eilends verstaut und weiter geht's. Das Ganze hat uns weniger als eine halbe Stunde gekostet, aber ich fühle mich wie neugeboren. Wir legen einen Gang zu und schließen nach und nach wieder zu Fahrern auf, die uns eben noch überholt haben. Bretonische Dörfer, Weiden, Getreide- und Maisfelder fliegen an uns vorüber, während wir über beschauliche Nebenstraßen dahinrollen. Ich genieße jeden Meter, umso mehr, als endlich auch noch die Sonne herauskommt. Das Leben ist so einfach: der Körper kennt und kann nichts anderes als pedalieren, aber darauf versteht er sich prächtig. Hunderte von Fahrern kommen uns in teilweise großen Gruppen entgegen. Ich möchte nicht mit ihnen tauschen.
Schon trage ich mich mit dem Projekt, mir heute morgen noch die Armlinge und Knielinge auszuziehen und die Sonnenbrille aufzusetzen; eine halbe Stunde später jedoch hat sich dieses Projekt erledigt, als der Himmel wieder zuzieht. Es hat nicht sollen sein.
Loudéac, 11.06 Uhr. Fürs Mittagessen ist es noch zu früh. Wir sind ziemlich gut in der Zeit. 450 Kilometer bleiben uns noch. Das ist, gemessen an der Gesamtstrecke, überschaubar. Dafür haben wir 21 Stunden Zeit, wollen wir die 60-Stunden-Marke knacken. Dies wäre im Bereich des Möglichen - aber eine weitere Nacht steht uns noch bevor. So halten wir uns hier auch nicht lange auf, zumal in den Pausen die Beine schnell zumachen und die Einrollphasen länger werden. Urban trifft ein, als wir uns eben auf den Weg machen wollen - wir hängen noch fünf Minuten an die Pause dran und rollen gemeinsam weiter.
Neuer Regen setzt ein. Zu uns gesellt sich ein Däne, der sein erstes PBP fährt. Sein Traum ist geplatzt - er hat für die 80-Stunden-Gruppe gemeldet, aber die Karenzzeit in Carhaix, heute früh 3.00 Uhr, überschritten. Man merkt ihm die Enttäschung an und die Erschöpfung. Dennoch leistet er seinen Teil im Wind, bis er komplett abgefackelt ist, aber immer noch höflich genug, zu fragen, ob er bei uns im Windschatten bleiben darf. Es gibt andere, die nicht lange fragen und sich einfach dranhängen, obwohl sie genügend Reserven hätten, selbt zu arbeiten.
Tinténiac, 15.25 Uhr. 860 Kilometer sind bewätigt. Ich fühle mich großartig, auch wenn mein Gang auf dem Weg zur Verpflegungsstelle sicher auf das Gegenteil schließen lässt. Die Meter auf dem festen Boden sind ungewohnt und anstrengend. Lieber nehme ich mit Kuchen am Imbissstand vorlieb, als 100 Meter weiter bis zum Restaurant zu staksen, wo das Essen eher nach meinem Geschmack sein dürfte. Weiter, weiter...
Gleichzeitig mit unserem Dreiergespann verlässt ein Duo die Kontrollstelle. Zu schnell, um uns einzuklinken. Der Wind bläst erneut stark von der Seite, insofern sind wir zu dritt gut bedient. Nach einer Stunde vielleicht fahren wir jedoch wieder auf sie auf, und es stellt sich heraus, dass Daniel, einer der beiden, ein Sohn der Stadt Fougères ist, dem ein triumphaler Einzug in seiner Heimatstadt bevorsteht. Seine Radsportfreunde nennen ihn wegen seines Alters Museeuw, und Museeuw ist bekannt wie ein bunter Hund in Fougères, unserem nächten Halt. Die Polizisten winken ihm zu und geleiten ihn zur Kontrolle, Leute links und rechts rufen seinen Namen, feuern ihn an. Die drei Nobodies an seiner Seite werden ignoriert...
Fougères, 18.04 Uhr. Während ich das Büfett vergebens nach magenfreundlichen Speisen absuche - das Restaurant befindet sich in einem Nebentrakt - posiert Daniel alias Museeuw mit dem Bürgermeister der Stadt und etlichen Honoratioren für die Presse, trinkt wohl das eine oder andere Glas Sekt, und zeitgleich machen wir uns wieder auf den Weg. Urban will sich hier für eine Stunde ablegen. Zu dritt nehmen wir einmal mehr den Kampf mit der Dunkelheit und dem Regen auf.
Museeuw verfügt über Streckenkenntnisse und kündigt die Hügel, "les bosses", und ihre Beschaffenheit stets vorher an und vergisst nie, dabei zu erwähnen, dass er die "bosses" nicht leiden kann. Sie sind seine schwache Seite, sagt er. Dennoch müssen wir oben selten mehr als ein paar Sekunden auf ihn warten. Mit seinen wohl 50 Jahren macht Museeuw seinem Namen alle Ehre, und wir bedauern sehr, dass er in Villaines noch ein paar Stunden schlafen will. Unsere Zusammenarbeit auf den 80 Kilometern bis dorthin war hervorragend. Übrigens auch der Wind: die 85 Kilometer waren wie ein Sturzflug in die Nacht.
Villaines-la-Juhel, 22.20 Uhr. Wieder herrscht enormes Treiben bei der Einfahrt zur Kontrolle und wir werden mit viel Applaus bedacht. Ich halte meine Kamera in die Menge, zu meiner Freude und zur Freude der Zuschauer. Über lange Fußwege durch den Regen erreichen wir das Restaurant. Diesmal brauche ich wirklich etwas Vernünftiges zwischen den Zähnen. Wieviel Kalorien haben wir wohl verheizt auf den letzten - fast exakt - 1000 Kilometer? Wären wir Profis, sie würden uns unverzüglich eine Infusion anhängen. So aber nehme ich mit Pasta vorlieb und bin ganz glücklich darüber. Wir sind beide nicht wirklich müde, legen uns aber prophyllaktisch für 12 Minuten hin. Die dritte Nacht auf dem Rad wird die schwierigste werden, zumal wieder heftige Schauer eingesetzt haben.
Hatte ich auf dem Hinweg die Strecke mit ihren 5000 Höhenmetern als leichte Kost abgetan, muss ich mir nun gestehen, dass mir die endlosen Anstiege zusetzen. Wann endlich wird dieses ewige Hoch und Runter ein Ende haben? 200 Kilometer noch, ein Pappenstiel, aber die Nacht hat erst begonnen... Hatten wir auf dieser Etappe Gesellschaft? Wohl schon, aber all die Schatten in der Nacht sind austauschbar, nehmen keine wirklich menschlichen Züge an. Wir fahren nebeneinander, hintereinander, reden kaum ein Wort. Langstrecken sind nur für Einzelgäger wirklich erträglich. Hatten wir hier die drei Spanier in unserer Gruppe, die sich nicht einfach hinten reingesetzt hatten, sondern die Anstiege stets von vorne gefahren waren? Mit meinem kümmerlichen Spanisch hatte ich sie zu einer gemeinsamen Weiterfahrt überreden wollen, aber kurz vor dem Etappenziel blieben sie am letzten Anstieg einfach zurück. Hatten sie sich, wie so viele, in ihr Begleitfahrzeug verdrückt, oder wollten sie uns einfach loswerden, um zu dritt in ihrem Rhythmus weiterzufahren?
Mortagne-au-Perche, 3.43 Uhr. Noch einmal einen Becher Schwarztee, ein Sandwich. Bewunderung für all die Helfer, die uns rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Ihr seid großartig. Für zehn Minuten legen wir unsere übernächtigten, ausgebrannten, stumpfsinnigen Köpfe auf die Tischplatte. Ein letztes Atemholen vor dem Showdown in Paris. 140 Kilometer noch, mein Gott, das werden wir wohl hinkriegen... Urban, um eine halbe Stunde Schlaf bereichert, fängt uns wieder vor dem Aufbruch ab und zu dritt fahren wir weiter. Sein Körper scheint gegen Schlafentzug resistent zu sein.
Nichts deutet darauf hin, dass wir uns Paris nähern. Verlassene, rau asphaltierte Nebenstraßen, schwarze Bäume, die gespenstisch in den Himmel ragen. Berg- und Talfahrt. Diese Müdigkeit. Junge, lass dich nicht gehen. - Ich muss mich hinlegen... - Halt durch! Wenn das Tageslicht kommt, geht's dir besser. - Ich muss mich hinlegen... Zu dritt ziehen wir uns in eine Bushaltestelle zurück; Axel legt sich auf die Bank, Urban setzt sich auf den Boden mit dem Rücken zur Wand, ich strecke mich im Biwaksack auf der blanken Erde aus. 15 Minuten. Basta!
Mit dem Augenaufschlag beginnt eine neue Ära. Kaum zu glauben, was 15 Minuten Schlaf ausmachen. All meine Energie ist zurückgekehrt. Jetzt fürchte ich weder Tod noch Teufel, geschweige denn die 100 Kilometer bis Paris. Im Dreierpack ziehen wir los - auf der Überholspur. Der Tag bricht an. Zu meiner großen Überraschung haben wir Emanuel Conraux aufgelesen, mit dem wir das 600er Brevet in Mulhouse absolviert haben. Zuerst erkenne ich ihn nicht wieder.
Dreux, 8.05 Uhr. Die letzte Kontrolle, 60 Kilometer vor dem Ende. Ich lade mir allerhand süße Stückchen auf den Teller und gönne mir den ersten Milchkaffee auf dieser Tour. Alles ist perfekt. Der Regen stört mich nicht mehr. Wir bringen diese Sache nun zu Ende. Zu viert starten wir, aber schnell ist die Gruppe angeschwollen. Der harte Seitenwind bläst wieder alles auseinander, irgendwo verlieren wir Emmanuel. Sein Akku ist leer. Wieder zu viert, mit Klaus, einem Deutschen. Hügel um Hügel. Ich erinnere mich daran, dass wir hier vor zweieinhalb Tagen drübergejagt sind, als die Kämpferschar noch unverbraucht war. Die Helden kehren heim.
Die Vororte von Paris. Kann sich irgendjemand vorstellen, wie hügelig diese Gegend ist? 15 Kilometer noch. Ein Platten. Schicksal. Der Schlauchwechsel hält auf. Vom Regen sind die Finger klamm. Nach einer gefühlten Ewigkeit fahren wir weiter. Erreichen St. Quentin-en-Yvelines. Hasten von einer roten Ampel zur nächsten. Das ist Folter: wenn der Körper, berstend vor Energie, vor der Zeit zum Stillstand verurteilt wird. Warten. Mit einem Mal scheint mir alles so natürlich. PBP zu fahren ist die natürlichste Sache der Welt. 1250 Kilometer in gut zweieinhalb Tagen - das ist Radfahren. Nicht mehr und nicht weniger.
Guyancourt, 11.53 Uhr. Als wir in Guyancourt in den letzten Kreisverkehr einbiegen, stehen wieder eine Menge Zuschauer da. Applaus. Einen Tag später stehe ich ebenfalls hier und bei jedem neu Eintreffenden überfällt mich ein Frösteln. Was haben sie nicht alles mitgemacht, um über dieses letzte Stück Asphalt zu rollen, das ein für alle Mal ins Ziel führt. Jetzt bin ich einfach nur erschöpft. Die 60-Stunden-Marke wird ein Traum bleiben.
Im Ziel hat es keiner eilig, seine Zeit bestätigt zu sehen. Man wühlt in seiner Lenkertasche, zieht sich die Überschuhe aus, die Schuhe, und begibt sich in aller Seelenruhe zum Kontrollpunkt. Der letzte Stempel. Feierabend.
Strecke: |
625 km |
Gesamtwerte: |
1251 km |
Fahrzeit: |
25:27 h |
47:57 h |
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Schnitt: |
24,6 km/h |
26,1 km/h |
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Gesamtzeit: |
37:33 h |
63:38 h |
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Höhenmeter: |
4934 |
9630 |
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Position: |
247 (5160) |
Fazit
Es war ein schweres, großartiges PBP 2007, unvergesslich ganz ohne Zweifel. Perfekt organisiert bis in alle Details. Ein großes Dankeschön an alle Helfer!
Nach der Liste der BC Randonneurs ist Jacques Raugel, unser Partner bei den Brevets, seinem Traum sehr nahe gekommen, am Ende ganz vorn dabei zu sein. Er fuhr als 19. in der Gesamtwertung durch die Ziellinie. Urban Hilpert hat's auf Platz 168 geschafft, Axel Wellpott und ich immerhin auf Platz 247, womit wir uns immer noch unter den besten fünf Prozent bewegen. Die Quote der Abbrecher lag bei 27,7 %. (1956 von 5160)
Schade für mich war, dass sich an den Kontrollstellen die Gruppen meist sofort zerstreut haben. Dies hängt nach meiner Beobachtung mit der großen Menge der Begleitfahrzeuge zusammen - unverzüglich nach dem Stempeln suchen die Teilnehmer mit Begleitung ihre Betreuer auf.
Die 16. Austragung von PBP 2007 hatte etwa 20 % mehr Teilnehmer als die 15. im Jahr 2003. Es wäre interessant zu wissen, ob die Zahl der Begleitfahrzeuge im selben Maß angestiegen ist oder - wie ich vermute - überproportional. Macht sich auch hier der Trend bemerkbar - wie bei vielen Breitensportveranstaltungen - dass sich Menschen Ziele setzen, denen sie sich selbst nicht ganz gewachsen fühlen, weswegen sie auf auf ein Maximum an Versorgung zurückgreifen, um Zeit und Energie zu sparen? Dies alles ist legitim und geduldet, widerspricht aber nach meiner Auffassung der Ethik der Audax-Bewegung, alles aus eigener Kraft heraus zu schaffen. Wieviel daran ist noch Abenteuer, wenn 1250 Kilometer mit dem Wohnmobil gefahren werden müssen, um die gleiche Strecke mit dem Rad zu bewältigen? Wer eine Zeit unter den Besten anstrebt, kommt um ein Begleitfahrzeug nicht herum. Aber das ist eine kleine Minderheit.
Ungeschmälert bleibt die Leistung jedes Einzelnen, die Strecke innerhalb der vorgegebenen Zeit absolviert zu haben.