Ein Jahrhundertsommer neigt sich seinem Ende zu. Die Beine sind müde, der Kopf voller Bilder: blühende Landschaften in der Frühjahrssonne, heißer Asphalt, ausgetrocknete Flüsse und Bäche, verdörrte Wiesen, verschwitzte Körper. Wasser, Eiskaffee, Weizenbier. Radtouren bei Kaiserwetter, früh morgens und spät abends. Die Tour de France: spannend wie seit Jahren nicht mehr.
Die Alpentour des Sommer beginnt zu verblassen, die Klagen über die Bruthitze sind verstummt. War sonst noch was? Am 21. März 2003, nach Einbruch der Dunkelheit, begannen die Amerikaner mit der Bombardierung Bagdads. Tags darauf fuhr ich meine erste 200-Kilometer-Tour dieses Jahres. Abends habe ich meine eisigen Füße aus den Schuhen gepellt und überschlagen, dass ich der Welt rund fünfzehn Liter Sprit erspart habe. Das ist nicht viel: ein Kampfjet käme damit wohl kaum weiter als über die Startrampe seines Flugzeugträgers. Was ich im Übrigen mit Fassung tragen würde.
Was mich aber wurmt, ist, dass sich die Amerikaner den Zugang zu den Ölquellen im Irak freigebombt haben. Ein vorzeitiges Ende des Elends auf unseren Straßen ist einmal mehr in weite Ferne gerückt und wir Radfahrer sind weiterhin zu unserer Rolle als Sand im Getriebe verdammt. Es gibt Tage, da bin ich es leid, mich durch die nie versiegenden Autokarawanen zu schlängeln, durch den Lärm und die Abgase. Da steht es mir bis oben, mit meinen zwei Beinen gegen diesen Moloch anzutreten, der Jahr für Jahr Tausende von Opfern fordert.
Ein andermal wiederum fühle ich mich als König der Straße: wenn ich bei Wind und Wetter auf die nahen Schwarzwaldberge fahre, leichtfüßig, ohne tonnenschweres Gefährt, ohne zwei Auspuffe unter dem Hintern. Fühle mich stark allein mit meinen zwei gesunden Beinen, die mich mit einiger Wahrscheinlichkeit noch auf die Berge hieven werden, wenn etliche meiner Altersgenossen bereits am Stock gehen. Und ich genieße das Privileg, mich nach einer anstrengenden Tour erschöpft fühlen zu dürfen.
Im Licht der milden Herbstnachmittage betrachtet, verblassen die Gründe für Klagen. Ich glaube, die Glücksgöttin macht bei uns Radfahrern öfters Station als bei anderen. Nicht weil wir schöne Beine haben oder Unmengen von Nudeln essen können, die die Produktion von Serotonin anregen, sondern weil wir uns auf unsere Weise ein Stück Würde zurückerobern, indem wir uns von diesem menschen- und umweltverachtenden Apparat unabhängig machen, für dessen Schmierstoff kein Preis zu hoch ist. Weil wir die kleinen Paradiese vor Ort zu entdecken gelernt haben: den Schwarzwald, die Vogesen, das Jura.
Und wenn nun die Beine von den vielen Kilometern einer langen Saison müde sind und sich in der Nachmittagssonne räkeln: ich gönne ihnen gerne die Ruhe. Ich habe ihnen einiges zu verdanken.
September 2003