Mulhouse, 12/13. Mai 2007, 15.00 Uhr
Dieser Wind! Er bläst von vorn, er bläst von der Seite. Aber die Temperaturen sind mild, und das stimmt optimistisch. Mein Optimismus reicht von den Haarspitzen über einen Gutteil des Gehirns bis zu den Fußnägeln. Locker pedaliere ich im Wind, gleich am Anfang ganz vorn, an der Spitze eines 37-köpfigen Feldes, allen Böen trotzend. Wild und herrlich!
Die Ernüchterung folgt umgehend: als ich mich bei Kilometer 40 etwa umschaue, ist das Gros des Feldes hinter den Kuppen des Jura verschwunden. Wir sind zu dritt: Urban Hilpert, Jacques Raugel und ich. Merde! In der Ferne sehe ich noch Peter Steck, mit dem wir dieses Mal nach Mulhouse gekommen sind, und den einen oder anderen. Zu weit weg, als dass sie bei unserem Tempo ohne weiteres aufschließen würden. Jacques überzeugt mich davon, dass es so besser sei, denn das Fahren nach dem Ziehharmonikaprinzip lässt keinen Rhythmus aufkommen. Und ergänzt, dass alles kein Problem sei, wenn man nur darauf achte, im aeroben Bereich zu fahren. Tatsächlich erschweren der Seitenwind und das kuppierte Gelände jede stabile Gruppenbildung. Wohl denn, es lebe der aerobe Bereich!
In Delle ist der erste Stempel fällig. Fast wären wir durchgerast, aber Urban erinnert uns gerade noch rechtzeitig an unsere Pflichten. Also den Lenker noch einmal herumgerissen, ab in die nächste Kneipe, zur Sicherheit kurz nach dem Weg gefragt - und weiter geht's.
Der Col de la Douleur bleibt uns dieses Mal erspart, die Strecke wurde etwas entschärft und führt einigermaßen flach an Montbéliard vorbei. Meine Enttäuschung darüber, dass uns damit einer der schönsten Teile der Strecke vorenthalten wird, hält sich in Grenzen aufgrund einer gewissen Vorahnung dessen, was uns noch erwartet.
Zunächst einmal erwartet uns Montbéliard mit hektischem Feierabendverkehr und danach eine ganz profane Reifenpanne. Aus der Tatsache, dass die Gruppe hinter uns zwischenzeitlich nicht aufschließt, schließe ich, dass unser Tempo so langsam nicht war...
Es geht den Doubs stromaufwärts, auf der gut ausgebauten D 437. Pont-de-Roide, Noirefontaine, St. Hippolyte. Orte, in denen ich zu früheren Zeiten bereits durchgekommen bin, mit Gepäcktaschen am Rad und in Urlaubsstimmung. Aber wir sind hier nicht im Urlaub. Also reingerauscht in den acht Kilometer langen Anstieg nach Maîche, hoch auf 775 Meter, Serpentine um Serpentine. Mein Keuchen lässt mich daran zweifeln, dass ich die 500 Höhenmeter wirklich auf aerobe Weise hinter mich bringe.
Maîche: Samstag abend, das Geschäftsleben erstirbt. Ein kurzer Stopp am Friedhof, um Wasser nachzufüllen. Danach lässt der Verkehr auf der Landstraße mitten durchs französische Jura stark nach.
Um 20.45 Uhr stehen wir dort, wo es jeden vernüftigen Menschen um diese Zeit hinzieht: am Tresen eines Restaurants, dem "Relais des Fourches" in Orchamps-Vennes. Allerdings nicht, um eine Bestellung aufzugeben, sondern lediglich, um einen Stempel zu erbitten. Draußen streife ich mir Armlinge, Knielinge und die Leuchtweste über, schiebe mir einen Riegel zwischen die Zähne und nehme einen Schluck Leitungswasser aus der Pulle, ehe ich mich erneut in den Sattel schwinge. Dass sich unsere Nachfolger hier eine halbe Stunde später an die gedeckten Tische setzen werden, will ich mir lieber gar nicht ausmalen.
Kilometer 180: Pontarlier ist der südlichste Punkt unserer Runde. Das letzte Tageslicht entschwindet eben, als wir durch die Stadt kreisen, auf der Suche nach einer offenen Tankstelle. Nichts zu finden, selbst ein Cola-Automat in der Hauptstraße versagt uns seine Dienste. Also besorgen Urban und ich unser Coffein zeitaufwändig in einem Restaurant am Stadtrand, während sich Jacques asketisch an einem Kräutertee wärmt. Es ist kühl geworden.
Klarer Sternenhimmel über uns, rauer Asphalt, einsame Kuhherden, die schmale Sichel des Mondes. Vielleicht 200 Kilometer liegen hinter uns. Die Streckenführung gönnt uns nur wenig Erholung: ein Hügel folgt dem nächsten. Kleines Blatt - großes Blatt und wieder klein. Meine Schaltung muckt auf, will nicht so, wie ich will. Ich stelle den Zug nach. Doch schon wenig später rutscht die Kette wieder über die Ritzel. Bis endlich der Schaltzug reißt, mitten im Nirgendwo.
Einen echten Randonneur kann dies nicht erschüttern, er hat seinen Ersatzzug dabei. Allerdings, wie ich im Schein der Stirnlampe betrübt feststellen muss, einen zu kurzen. Aber Urban, der Randonneur schlechthin, kramt aus seinem Ersatzteillager den passenden hervor. Eingefädelt, aufgesessen, merde... . Geht nicht. Ausgefädelt, die Stellung des Bremsschalthebels kontrolliert, eingefädelt, merde, merde, merde! Es wird hundekalt, die Finger klamm. Es gelingt mir, den abgebrochenen Nippel aus dem Getriebe zu pfriemeln. Beim Einfädeln spleißt der Zug auf. Das hat gerade noch gefehlt. Mit Gewalt geht nun gar nichts. Also mit Fingerspitzengefühl das abstehende Drähtchen Runde um Runde vom Strang abwickeln und so tun, als hätten wir alle Zeit der Welt. "Geduld ist die erste Randonneurspflicht", sagt Urban. Immerhin: wir befinden uns für zwanzig Minuten im aeroben Bereich.
Spätestens beim Aufsitzen ist Schluss mit Geduld. Jacques stiebt in die Nacht, als gälte es, die verlorene Zeit bis Mitternacht wieder aufzuholen. Vor Ornans ein erneuter Stopp am Friedhof zum Wasserfassen. Ich bin müde, hundemüde und strecke mich für eine Minute auf einer Grabplatte aus - die Trauerfamilien mögen's mir verzeihen.
Es hat mir geholfen. In Ornans bin ich wieder soweit hergestellt, dass ich mich unauffällig an den Tresen einer Pizzeria stellen kann und mit einem weiteren Glas Cola in der Hand zuschauen kann, wie die adrette Bedienung unsere Brevetkärtchen abstempelt. Bei der Weiterfahrt fällt mich zu allem Überfluss noch ums Haar ein Dackel an, aber mit einem geistesgegenwärtigen Griff zur Trinkflasche und einem zielgenauen Spritzer in die Augen ist auch dieses Problem zügig erledigt.
Im selben Ort, so hat Peter Steck später erzählt, spielte sich eine der komischsten Geschichten ab, die ich je gehört habe. Nicht nur uns machte die Kälte zu schaffen. Ein Fahrer aus der nachfolgenden Gruppe hat wohl dermaßen an den Beinen gefroren, dass er in seiner Verzweiflung eine Abendgesellschaft angegangen ist und eine der Damen offensichtlich eindringlich darum gebeten hat, ihm ihre Strumpfhose zu überlassen. Sie hat ihm seine Bitte erfüllt. Soviel zu Ornans.
Clerval heiß die nächste Station. Kilometer 266. Ein letzter Spätheimkehrer wechselt die Straßenseite, danach herrscht Totenstille. Nicht der Ort, um kurz vor drei Uhr noch einen Stempel zu erhaschen. Also eine der vorbereiteten Postkarten beschriftet - Name, Ort, Uhrzeit und Unterschrift - und ab damit in den Briefkasten. Und ein Beweisfoto, für alle Fälle. Womit dieses Kapitel auch abgehakt wäre. Wir queren auf die Nordseite des Doubs, das Terrain wird etwas flacher.
Die Wogen der Müdigkeit stürzen auf mich ein. Das Gesichtsfeld wird von Minute zu Minute kleiner. Durchhalten bis Lure! gebe ich mir als Anweisung, schüttle den Kopf, gebe für ein paar Tritte mehr Kraft aufs Pedal, und schon verfalle ich wieder in diesen präkomatösen Zustand.
Um 4.50 Uhr haben wir Lure am südwestlichen Ende der Vogesen erreicht. Eine offene Bäckerei im Zentrum! Nicht dass ich Hunger hätte, mein Lenkerbeutel ist mit reichlich Essensvorrat gefüllt, aber es ist so etwas wie der Vorbote des anbrechenden Tages, eine Verheißung davon, dass alles wieder gut wird... Ich kaufe mir frische Croissants, kriege aber nur einen runter, kein gutes Zeichen. Dann lege ich mich für zehn Minute auf einer Bank vor dem Geschäft ab. Trotz der Kälte - sieben Grad zeigt das Thermometer - fühle ich mich danach besser.
Uns bleiben 85 Kilometer. Ich weiß, dass dies zu schaffen ist, es bleibt lediglich die Frage nach dem Wie. Meine Reserven sind abgefackelt, das Jura erwies sich einmal mehr als äußerst kräfteraubend. Jacques lässt nicht locker, forciert immer wieder das Tempo, Urban hält dagegen, und ich klemme mich wieder und wieder hinten dran. Doch irgendwann steigt die Sonne über die Hügel, haucht neues Leben in Kopf und Beine. Alles wird wieder gut...
Kurz vor halb neun haben wir's geschafft. 417 Kilometer insgesamt, fast die Häfte davon unter klarem Sternenhimmel, im Licht unserer Scheinwerfer. Und nun sitzen wir in der prallen Sonne, trinken ein Bier zum Frühstück und lassen die Nacht kurz Revue passieren. Dann wird es Zeit für ein Schläfchen im Rasen, bis Peter mit seiner Gruppe - gut zwei Stunden später - eintrifft. Das Wochenende hat begonnen.
Strecke: |
417 km |
Fahrzeit: |
15:12 h |
Schnitt: |
27,4 km/h |
Gesamtzeit: |
17:30 h |
Höhenmeter: |
3485 |