Paris ist anders. Nicht weil es die Stadt der Liebe ist und an allen Straßenecken geküsst wird - das auch. Aber auch wegen der Art des Radfahrens. Man steht zum Beispiel mit seinem Leihrad, dem Vélib', an einer roten Ampel, sagen wir an der Place de la République, im morgendlichen Berufsverkehr. Nervosität liegt in der Luft und während die Ampeln des Querverkehrs auf grün umspringen und die Motoren in vorderster Front ungeduldig aufheulen, zischen zwei Radfahrer von hinten an einem vorbei, schnurstracks in die Kreuzung hinein. Ungeniert und unbeeindruckt von jeder Farbsymbolik. Wer nun ein Hupkonzert der Auto-, Bus- und Taxifahrer erwartet, wird enttäuscht. Man lässt den beiden Radfahrer widerwillig, aber doch respektvoll den Vortritt bis sie verschmelzen mit dieser Fahrzeugwelle, die im selben Moment über die Kreuzung hereinbricht. Die beiden Radfahrer haben nichts von irgendwelchen lebensmüden Radkurieren, sondern sind normale Bourgeois - grauer Anzug, Aktenköfferchen im Korb des Leihrades. Diese Toleranz ist uns fremd. Aber in Paris ist sie allgegenwärtig. Ob man zu zweit nebeneinander fährt, ob verkehrt in die Einbahnstraße, ob auf der Busspur, ob auf dem Gehweg - nur selten findet man jene hupenden Lehrmeister und Erzieher, die hierzulande, kaum dass sie die Führerscheinprüfung mit zitternden Knien bestanden haben, in so großer Zahl ihres selbstauferlegten Amtes walten. In Paris lebt man und lässt leben.
Wer allerdings glaubt, dass in dieser pulsierenden Metropole paradiesische Zustände für Radfahrer herrschten, wird spätestens dann eines Besseren belehrt, wenn er die sechs oder sieben Kilometer vom Marais bis zum Eiffelturm mal auf die Schnelle zurücklegen will. Schon bis zur Seine ist es ein zähes Ringen mit unzähligen roten Ampeln. Eine grüne Welle, wenn es sie überhaupt gibt, existiert allenfalls für die motorisierten Freunde am Sonntagmorgen. Unsereiner wartet eben. Na ja, mit der Zeit beginnt man sich zu fragen, ob die Pariser mit ihrer beeindruckenden Nonchalance uns nicht etwas voraushaben. Die deutsche Krämerseele, die nur in Kategorien von "erlaubt" und "verboten" zu denken gelernt hat, wird zunehmend morbide, löst sich auf wie Eis im Pernod. Nach unserer Erfahrung geht es knapp zwei Tage. Die Lockerheit setzt spätestens dann ein, wenn man merkt, dass die vielen Streifenpolizisten keinerlei Interesse daran haben, gegen diesen zivilen Ungehorsam einzuschreiten. Vermutlich wäre das unter ihrer Würde.
Stationen für diese Mieträder gibt es an jeder Ecke für einen Euro pro Tag. Allerdings nur für jeweils eine halbe Stunde, dann heißt es wieder umsatteln - so wird gewährleistet, dass die Räder im Verkehr und damit für alle verfügbar bleiben. Entsprechend hat der Radverkehr in den letzten Jahren enorm zugenommen. Ansonsten ist alles beim Alten geblieben. Die Franzosen sind geschäftig, die Japaner fotografieren und alle andern schlendern verliebt durch die Gassen oder blockieren knutschend die Radwege. Gute Idee. Wir sind schließlich nicht zum Radfahren nach Paris gekommen.
November 2008