ARA Breisgau: 300 Kilometer 4. Mai 2019, 8:30 Uhr
Angesichts der geradezu unüberschaubaren Flut an Radsportevents, die neuerdings aus dem Boden sprießen, mag man als Novize, geblendet von vierstelligen Kilometerzahlen oder anderen Superlativen, zur Meinung tendieren, dass es sich für dreihundert Kilometer kaum lohnt, die Kette zu ölen, und die alten Hasen, die es besser wissen müssten, fangen ohnehin erst bei 400 Kilometern an, sich die Beine zu rasieren – wenn überhaupt. So fristet ein Dreihunderter, wie ihn die Szene in aller Schlichtheit zu nennen pflegt, sein Dasein als armes, unscheinbares Würstchen zwischen dem glanzvollen Saisonauftakt eines 200-Kikometer-Brevets und den großen Brüdern mit 400 und 600 Kilometern.
Ganz Dreiste behaupten sogar, dass man stattdessen ja genauso gut irgendein Spaßevent der alpinen Freizeitindustrie wie Ötztaler oder Alpenbrevet absolvieren könne. Da wisse man, was man habe, und das Breisgauer Bölchen-Brevet mit seinen rund 4000 Höhenmetern auf 300 Kilometern könne ja allenfalls nur ansatzweise mit den alpinen Vettern gleichziehen. Die einzige wirkliche Herausforderung des gesamten Bölchen-Brevets sei, sich am Pastabüffet im Bölchenhaus nicht zu überfressen.
Veranstalterseitig ist zu hören, dass man sich der Problematik mit der Positionierung auf dem Eventmarkt durchaus bewusst sei und an der Reputation feile, dass man aber gleichzeitig auch froh sei, dass dafür die Dopingproblematik im Breisgau angeblich keine Rolle spiele, auch wenn hier gerade in der Frühzeit von alkoholischen Exzessen vor und nach den Brevets berichtet wurde. Dies aber sei lange her, so wird von maßgeblicher Seite beschwichtigt, und man habe diese Dinge nun gut im Griff.
Zur Ehrenrettung des 300-Kilometer-Brevets kann man allerdings auch darauf verweisen, dass es als Schlechtwetter-Brevet eine gewisse Berühmtheit erlangt hat – nur wenige können sich daran erinnern, es jemals ohne stundenlange Regengüsse bewältigt zu haben. Insofern überrascht es niemanden, wenn sich für den 4. Mai 2019, punktgenau zum Brevettermin, eine Kaltfront ankündigt, die es in sich hat. Sogar über Schneefall wird spekuliert – wie aufregend! Nicht wenige werden sich vor lauter Vorfreude die noch warmen Hände gerieben haben. Andere wiederum – eher der Ötztaler-Typ – ziehen es vor, zuhause zu bleiben, da sie angeblich ihre Schneeketten verlegt haben.
Natürlich wird wieder heißer gekocht als gegessen. Der Berichterstatter, unterwegs auf der Schleife Nr. 2, kann lediglich leichten Schneefall auf dem Rinken ausmachen und später dann mäßige Niederschläge auf dem Weg zur ersten Kontrolle in St. Blasien – immerhin stark genug, dass man sich in einem Sportgeschäft, wo man seine Brevetkarte gerne zum Nachweis abgestempelt hätte, ziemlich blamiert, weil man diese mit seinen klammen Fingern kaum aus der Brieftasche gezerrt bekommt.
Im Rheintal normalisiert sich die Lage, nur in westlicher Richtung hängen düstere Wolken am Himmel – man ahnt, dass da noch was kommen könnte. Dann wird einem der Himmel egal, weil die Rampen des Schweizer Juras Vorrang haben – selbst wenn man den Kopf in den Nacken legt, sieht man vorwiegend die Straße vor seinen Augen.
Just am Bölchenhaus, der dritten Kontrolle, setzt der lang erwartete Schneefall ein. Ein wohliger Schauer jagt einem über den Rücken, wenn man im Gastraum sitzt, den vollen Spaghettiteller vor sich, und draußen dem Schneetreiben zusieht, wenngleich ich ein etwas mulmiges Gefühl nicht verdrängen kann. So wie es vor der Tür wirbelt, ist es unschwer abzuschätzen, dass da etwas Ordentliches auf uns zukommt. Kaum ist der Teller leer bis auf die roten Soßenreste, sind die Bergflanken weiß, die bis eben noch grün waren. Bis zum Scheltenpass mit seinen 1050 Höhenmetern bleibt noch eine Stunde. Und dann kommen die 140 finalen Kilometer.
Zwanzig Kilometer weiter rollt der Berichterstatter den Scheltenpass hoch. Die Hände sind eisig, obwohl der Kreislauf pumpt, was geht. Jemand singt ein Weihnachtslied, Anfang Mai. Witzig. Die Rennradspuren vor mir im Schnee führen im Zickzack nach oben. Ich fahre ihnen hinterher. Dann die Abfahrt. Die Schneedecke ist weitgehend geschlossen, kaum Autos, die in der letzten halbe Stunde hier durchkamen. Man hat die bange Ahnung, dass hier Brevetgeschichte geschrieben werden könnte, verzichtet jedoch gerne darauf, weil man in erster Linie nur heil runterkommen möchte. Und man denkt an die, die erst in einer Stunde oder noch später hier drüberfahren und das Herz rutscht einem bei diesem Gedanken in die nasskalte Radhose. Wie um Himmels willen sollen sie diese Abfahrt unbeschadet überstehen?
Ich für meinen Teil bin heil runtergekommen, der Schneematsch schmirgelt wie Glaspapier an den Felgenflanken und der Zahnkranz ist vereist – man tritt an den Stellen, wo man treten könnte, überraschend ins Leere. Mit fünf anderen erreiche ich Delémont, wir halten vor einem Schnellimbiss. Hinter den Frontscheiben amüsieren sich zwei Mädels beim Softdrink, als wir die Eisschicht von unseren Regenjacken puhlen. Auf dem Schild meiner Radmütze hat sich ein halbes Pfund gefrorener Schnee abgelagert – auch dieser will vor dem Betreten des Lokals abgeklopft werden. An diesem späten Samstagnachmittag im Mai trinke ich zwei Becher heißen Kaffee, während draußen, auf 400 Meter über dem Meeresspiegel, der nasse Schnee auf die Straßen fällt. Dann reißen wir uns wieder zusammen und fahren im Schneetreiben hoch auf den nächsten Pass auf 700 Meter und durch Schneematsch wieder runter. Das Gefühl in den Fingern reicht gerade noch für die allernötigsten Bremsmanöver. Man weiß, dass noch zwei, drei Dutzend Fahrer hinter einem sein müssten und womöglich hier in die Dunkelheit kommen. Mit nachlassender Höhe lässt auch der Schneefall nach, geht in Regen über. Dann wird es Nacht, wir erreichen die Rheinebene und schließlich, komplett unterzuckert, den Augustiner in Freiburg, das Ziel.
Was folgt, ist ein Abend voller erregender Schauergeschichten. Man hört von Fußmärschen über verschneite Straßen, von vereisten Bremsen, Schaltungen und Zahnkränzen, von Baumbruch, von Plattfüßen, die zu reparieren bei den vorherrschenden Temperaturen im Grunde genommen unmöglich ist. Man hört von intimeren Dingen – etwa dem mühseligen Unterfangen, mit den vereisten Handschuhen sein Gemächt für die Blasenentleerung ans Freie zu zerren. Erstens sei da kaum mehr etwas zu finden gewesen, wo üblicherweise ein Organ weilt, und zweitens seien die eisigen Handschuhe dermaßen glitschig, dass sich das kümmerliche Fundstück nicht habe greifen lassen. Es müssen sich hinter mir dramatische Szenen abgespielt haben, und schon packt mich wieder ein Anflug von Neid auf die, die die Tour in ihrer ganzen epischen Dimension auskosten durften. Man hört von eigentlich unverwüstlichen Randonneuren, die unterwegs in den Zug gestiegen sind, und ein Raunen geht durch die Anwesenden: solche Meldungen sind es, die dieses Brevet erst richtig adeln.
Nachts um zwei Uhr kommen noch durchweichte Menschenbündel daher, auch nachts um drei. Und jeder an den Tischen kann sich vorstellen, was die Eintreffenden hinter sich haben, man applaudiert wie wild und hebt die Gläser zum allseitigen Wohl, und fast bricht sich eine Erscheinung Bahn, die man längst ausgerottet glaubte: der alkoholische Exzess. Dann kommen noch drei junge Leute um vier Uhr daher, gerade noch rechtzeitig vor dem Zielschluss, darunter eine Frau, die sich einen Kilometer vor dem Ziel noch einen Platten eingefangen hat und den letzten Kilometer auf der Felge gefahren ist. Und durch die Gaststätte weht eine Ahnung davon, dass an diesem Abend Menschen die erste Sprosse auf der Leiter der Unsterblichkeit erklommen haben, auf gerade mal 300 Kilometern. Und jeder weiß: so schnell wird keiner wieder etwas Schlechtes sagen über das Bölchen-Brevet, diesem armen Würstchen. Bleibt zu hoffen, dass die Klimaerwärmung uns nicht schon im nächsten Jahr wieder ein Strich durch die Rechnung macht.
Strecke: |
302 km |
Höhendifferenz: |
4400 m |
Gesamtzeit: |
15:23 h |