ARA Breisgau: 400 Kilometer Freiburg, 10. Mai 2014, 8 Uhr
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Das Jahr schreitet fort. Man merkt dies vor allem daran, dass der hochverdiente Urlaub langsam überfällig und die Brevets immer länger werden. Aber auch bei Strecken von 400 Kilometern Länge gibt es noch knapp hundert Leute, die sich vor Ort einfinden, was bei Millionen von anderen Möglichkeiten, das Wochenende zu verbringen, einiges heißen will. Angesichts der Alternativen - Kindstaufen, Jubiläen, Billigflüge, Schnäppchenjagd - mehr als eine glückliche Fügung. Der Tunnelblick, mit dem unsereiner durchs Leben pedaliert, hat uns genau hierher geführt, ungeachtet aller erdrückenden sozialen und sonstigen Verpflichtungen.
So haben wir an diesem Morgen das wunderbare Vergnügen, dass wir auf zwei Rädern in die Welt hinausströmen, nachdem das Buffet im Augustiner abgegrast wurde. Siebenundzwanzig Stunden hat man Zeit für die 400 Kilometer - das heißt: mehr als einen ganzen Tag lang nichts tun müssen als Radfahren. Kein Geschirr abspülen, keinen Rasen mähen, keinen Einkaufswagen schieben. Geschweige denn arbeiten. Nicht einmal duschen. Der totale Anachronismus in einer Zeit, die in ständiger Beschleunigung dem Abgrund entgegenrast.
Stoisch rollen wir entlang der Dreisam nach Westen, im Bewusstsein, dass dort, wo sich die Berge unter den Wolken langsam herausschälen, ein Teil unserer Lebenszeit ungestört dahinfließen wird. Das sieht im Morgenlicht alles so prächtig aus, dass die Ersten gleich schon wieder auf die Idee kommen, man könnte ja ein bisschen schneller fahren, um möglichst früh dort zu sein. Und nachdem sich die ganze Gesellschaft in Umkirch, wo das örtliche Baugewerbe den Ort gerade großflächig umpflügt, auseinanderfällt und am Ortsende wieder neu zusammenfindet, will es das Schicksal, dass ich nicht weit hinter einer der vorderen Gruppen bin. Nach dem Vogelsangpass hinter Bötzingen bin ich dann noch ein bisschen weiter vorn, zusammen mit ein paar verstreuten Kollegen, und finde den Gedanken nicht so schlecht, lieber jetzt etwas reinzutreten, um nachher die Fahrt durch die Vogesen besser genießen zu können. Was man hat, hat man.
Nach diesem etwas zackigen Präludium - das Wort stammt von einem der geistreichsten Mitstreiter im Peloton - wäre nun ein ruhiger, ganz der Erbauung gewidmeter Mittelteil angemessen, um am Ende eine furiose Wendung hin zu einem dezidierten Höhepunkt zu nehmen. Es kommt anders. Ausgerechnet mein geistreicher Mitstreiter, der mich nach der ersten Kontrolle in Osenbach, wo seine Gruppe zunächst durch einen Defekt lahmgelegt wird, von hinten auffährt, keucht mir zu: Dranbleiben! Die beiden Jungs vorne fahren wie verrückt. Aber in der Ebene schaffen wir's, dran zu bleiben. Das tun wir dann auch. Dann kommt der Col d'Amic, und ich verliere den Überblick. Während des Aufstiegs, den man sich auch gemütlicher vorstellen könnte, kommen aus dem Munde meines geistreichen Beifahrers gewichtige Worte: In einer begrenzten Welt geht's überall, wo es hoch geht, auch wieder runter. Ob er damit nur einen beiläufigen Kommentar zu unserer gegenwärtigen Situation abgeben oder - zuzutrauen wär's ihm - gleichnishaft die Entwicklung unseres modernen Gemeinwesens charakterisieren wollte? Man hätte eigentlich nachfragen sollen. Andererseits ist man in bestimmten Phasen froh über jedes Wort, das man nicht selbst sagen muss. Auf alle Fälle hat die Rad fahrende Zunft den großen Vorteil, dass auf dem Scheitel der Kurve keine Spekulationsblasen platzen und uns auf der anderen Seite statt eines bodenlosen Abgrunds eine lang gezogene Talfahrt erwartet.
Die Zeit jedoch lässt sich nicht austricksen. Nur weil wir Computer, Telefon und Handy gleichzeitig bedienen, ist noch keine Minute Lebenszeit gewonnen. Dies müsste man sich eigentlich vor Augen halten, wenn man sich entschieden hat, seine Lebenszeit in die Langstrecke zu investieren. Ob man den Col de Hundsrück hochschnauft oder sich im Gegenwind nach Belfort hinter dem Vordermann verkrümelt: jede Minute früher am Ziel bedeutet verschenkte Zeit. Hat der Audax Club Parisien dem Menschen nicht siebenundzwanzig Stunden gewährt?
Man sieht nicht in die Köpfe rein und man weiß nicht, was die Menschen dazu veranlasst, genau das zu tun, was sie tun. In der Gruppe, in der wir in Belfort an einer Bäckerei einen angemessenen Halt einlegen, sind welche dabei, denen - und davon bin ich überzeugt - sobald sie wieder auf ihren Rädern sitzen, einfällt, dass sie zuhause die Milch auf der heißen Herdplatte vergessen haben. Besonders quälend muss dieser Gedanke sein, wenn sie die kleinen Stiche hochpreschen, die man genauso gut fröhlich pfeifend hinter sich bringen könnte - oder wenn sie ihren Part im Wind übernehmen. Mit solchen Leuten lebt man in ständiger Gefahr, dass man deutlich früher als vorgesehen zuhause am Abspülbecken wieder das schmutzige Geschirr durchzieht. Dass die ganze Welt dem Abgrund zurast, wundert einen nun auch nicht mehr.
Es wäre allerdings unredlich, so zu tun, als hätte man nicht auch seine Freude daran, dass die Kilometerzahl bis zum Ziel schmilzt wie Eis in der Sonne. Gerade von letzterer ist schon seit längerem nichts mehr zu sehen, und so gibt es gute Gründe, den Col de Servance hoch nicht allzu sehr zu bummeln. Und diese faszinierende Landschaft danach, wo es wahrscheinlich mehr Seen als Einwohner gibt, kann man fast genauso gut bei hoher Pulsfrequenz genießen. Vielleicht spielt der erste Regen, der auf diesen einsamen Straßen einsetzt, auch eine Rolle, dass nun die Überlegung, lieber am Ziel ein Bier mehr zu trinken, als hier im Unwetter zu verweilen, zunehmend an Attraktivität gewinnt. In solch schwierigen Zeiten verdient der Randonneur eine gewisse Nachsicht. Den Pass hoch nach Gerardmer legen wir einen Zahn zu. Mein geistreicher Beifahrer bleibt unbemerkt zurück und mit ihm sein philosophischer Beistand. Zum Glück tritt sein Ersatzmann auf den Plan: Radsport ist kein Hallensport. Diese erhebende Feststellung fällt, als geschätze 500 mm Regen pro Stunde vor Gerardmer auf uns niederprasseln. Unter einem Vordach ziehen wir uns - wie immer viel zu spät - die Regenjacke über und zwingen uns, von den himmlischen Sturzbächen jeder Sicht beraubt, in die Abfahrt in die Stadt am Rande der Vogesen.
In der Auberge du Col de Bonhomme gelingt es dann doch, noch etwas Zeit herauszuschlagen. Man richtet sich häuslich ein, während die Spaghetti in den Tellern dampfen. Durchnässte Randonneure sitzen in Unterhemden am prasselnden Ofenfeuer der Gaststube. Es ist spät geworden, zehn Uhr abends, und kühl. Kaffee macht die Runde. Man könnte sich hier nun ein Zimmer mieten und morgen früh um sechs Uhr den Rest erledigen. Das aber wäre doch zu viel des Guten. Siebzig Kilometer vor dem Ziel fürchtet man keinen Rasen, der gemäht, und keinen Teller, der gespült werden will. Man fühlt sich, kaum dass die Spaghetti im Bauch sind, wie Superman.
Unnötig zu sagen, dass solche Gefühle sehr mächtig sind. Sie tragen einen mühelos die Abfahrt hinunter und weiter bis zum Rhein, und dann mit Rückenwind und vereinten Kräften - auch der Philosoph ist wieder unter uns - zurück nach Freiburg. Bei der Ankunft zuhause, im Morgengrauen, nimmt man den kritischen Zustand des Rasens zur Kenntnis. Man wirft einen Blick in die Küche. Der vergangene Tag erscheint zu dieser frühen Stunde in einem magischen Licht, während sich am Spülbecken bereits die ersten Abgründe auftun.
Strecke: |
412 km |
Höhendifferenz: |
4575 hm |
Fahrzeit: |
15:23 h |
Schnitt: |
26,8 km/h |
Gesamtzeit |
17:54 h |