Freiburg, 30. Mai 2016, 5.30 Uhr
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Es liegt auf der Hand, dass ein Leben ohne Brevets möglich ist. Haben wir nicht alle in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft jemanden, der noch nie eine Langstrecke bewältigt hat – die Oma, der Opa oder irgendein Cousin dritten Grades? Eine ganz andere Frage ist die, ob das Leben als solches überhaupt sinnvoll sein kann, wenn man nicht von Zeit zu Zeit pedalierend das Weite sucht. Kann es nicht, hätte ich bis vor Kurzem gesagt, unmöglich. Nun aber wollte es das Schicksal, dass ein guter Freund, der bislang nicht als Häretiker von sich reden machte, existenzielle Zweifel in mir aufgeworfen hatte mit seiner Behauptung, auch ohne Brevetfahren zufrieden und glücklich sein zu können und er auf die in Kürze anstehende Langstrecke verzichte. Ausgerechnet er. Ausgerechnet vor dem Mont-Ventoux-Brevet, der Verheißung schlechthin, der im Grunde jeder erliegen muss, der jemals vom süßen Nektar der Landstraße gekostet hat.
Wenn es soweit ist, wischt man selbstredend alle Zweifel beiseite – so wie Anhänger anderer Glaubensrichtungen zur Fronleichnamsprozession oder zum Rosenmontagsumzug bedingungslos auf der Matte stehen: 5:30 Uhr, Hauptbahnhof Freiburg. Sogar noch eine gute Viertelstunde früher, denn vor dem Start will ja noch einiges geregelt sein und, wenn's hoch kommt, noch ein Kaffee geschlürft werden. Das ist verdammt früh und wäre für weniger Überzeugte ein vorzüglicher Grund, vom Glauben abzufallen. Aber an dieser Stelle, das kann ich mir zugute halten, stehe ich fest wie ein Fels in der Brandung.
Gleichwohl muss man erste Erosionen innerhalb der Jüngerschar feststellen. Nach mancherlei Absagen in den Vortagen treten zwei weitere gleich gar nicht an. Der Dritte schüttelt mir die Hand und sagt, er müsse mit seinem Rad statt in den Süden gleich wieder heimfahren ins Schwäbische, da ihm die Arbeit kaum Luft zum Schnaufen lasse. Der Vierte hingegen lässt sich entschuldigen, er habe die falschen Handschuhe mitgenommen. Auch dies mag ein triftiger Grund sein. Wenn Fasnachtsnarren ihr Kostüm zuhause vergessen haben, sehen sie bestimmt ebenfalls von einer Teilnahme am Umzug ab. Ich hingegen habe weder zu viel Arbeit noch irgendetwas Essenzielles vergessen und reihe mich folglich umstandslos in die verbleibenden siebenundzwanzig Starter ein, bereit, mit Hingabe vom Nektar der Landstraße zu naschen – Glaubensfragen hin oder her.
In der Dunkelheit bringen wir Freiburg hinter uns und im freien Gelände kommt langsam Schwung in die Sache. Als wir an der französischen Grenze den Rhein überqueren, gibt die Dämmerung einen grauen Himmel frei und der Berufsverkehr nimmt ein Ausmaß an, dem man auf dem Radweg Richtung Mulhouse gerne entgeht, und in diesem Moment zumindest ist mir klar, dass Zweifel an unserer Sache geradezu lächerlich sind, gibt es doch weit sinnlosere Dinge, als Brevets zu fahren. Nämlich zur Arbeit. Etwaige Restzweifel werden in den nächsten Tage mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Glück auf, der Süden ruft! So weit haben mich die Anwandlungen meines Freundes also doch nicht aus der Bahn geworfen.
Der Rhein-Rhône-Kanal ist bestens geeinget, um auch im Nieselregen auf dieser Bahn schnurstracks fortzufahren, und flach genug, um die Illusion zu nähren, dass der Weg nach Süden ein leichter sei, so dass bis zur ersten Kontrolle in Etupes bei Kilometer 106 der Beweis des Gegenteils noch in weiter Ferne liegt.
Pont-de-Roide, zwanzig Kilometer später: wieder liegt ein verkehrsreicher Abschnitt hinter uns und endlich führt uns die Route auf die kleinen Straßen, die der Randonneur so liebt. Flusslandschaften, Täler, Felswände. Die Szenerie wird ursprünglicher – die industriellen Zentren liegen hinter uns und frühestens in Pontarlier wird das Auge wieder solcherlei triste Ansichten ertragen müssen. Ersatzweise gibt es bis dahin allerdings zunehmend anderes zu ertragen, das mit einem einzigen fürchterlichen Wort benannt werden kann: Gegenwind. Gegenwind von einer Windstärke, bei der einem auf rauer See kotzübel würde, und es bedarf keiner großen Anstrengung, sich mental in diesen Zustand zu versetzen. Die Höhenmeter nehmen sich im Vergleich dazu geradezu erbärmlich aus, selbst wenn sie sich uns in rauen Mengen in den Weg stellen. Irgendwo nach Orchamps-Vennes setze ich mich mit einer Tüte Studentenfutter unter einen Baum und gehe in mich. Und dann schwöre ich mir, keinen Meter mehr zu fahren, bis einer kommt, mit dem ich Windschatten fahren kann. Genau hier, auf dieser windumtosten Hochfläche, unter meinem Baum im wintergrauen Gras sitzend, überfällt mich fröstelnd die Ahnung, dass man unter Umständen auch ohne Brevetfahren zufrieden sein könnte, auch wenn derart unkeusche Gedanken niemals über meine Lippen kämen. Am Ende quäle ich mich wie befürchtet alleine weiter bis Pontarlier, wo das erste Drittel ist erreicht ist. Halb vier am Nachmittag. Es wird Zeit für eine anständige Pause. Und höchste Zeit, die Moral wieder nachzujustieren. Fragt sich nur, wie. Die beiden Leidensgenossen, die, einer nach dem anderen, zu mir stoßen, signalisieren, dass sie nicht abgeneigt sind, gemeinsame Sache zu machen. Wen wundert's.
In Mouthe, Kontrolle Nummer zwei bei Kilometer 245, pausieren wir knapp unter der Tausend-Meter-Grenze. Es ist immerhin warm und halbwegs sonnig beim Blick aus dem Vorraum des Supermarktes, wo wir uns niedergelassen haben. Und windstill. Aber das ändert sich, sobald wir wieder auf den Parkplatz treten und erneut die Räder besteigen. Vor uns liegt das Hochjura. Traumhaft schön im Abendlicht. Schneefelder links und rechts der Straße, eingefasst von Wäldern. Der Nektar fließt in Strömen, das Herz des Randonneurs frohlockt, denn dem Wind, diesem Miststück, fehlt die Angriffsfläche. So schnell ändern sich die Dinge. Erst hinunter nach Le Pont, auf der Schweizer Seite, bietet er uns wieder die Stirn. Vielmehr wir ihm: stets ist es der Schwächere, der die Stirn bieten muss. Dem Wind wiederum ist das reichlich egal, was eigentlich eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist. Man könnte tatsächlich vom Glauben abfallen und sich umorientieren – auch Narrenzünfte würden sich über neue Mitglieder freuen. Das einzig Gute an der Sache ist, dass wir dennoch, in einer Linie fahrend, irgendwie voran kommen, und um zehn vor neun passieren wir zum zweiten Mal an diesem Abend die Marke von 1250 Meter. Dreihundert Kilometer liegen hinter uns. Von hier an geht es bergab, raus aus dem Jura. Der Wind hat endlich nachgelassen. Eigentlich sollte hier die Provence beginnen. Tut sie aber nicht, was ich ungemein bedauere.
In Mijoux, zwanzig Minuten später, werfen wir beim Anblick einer Pizzeria den Rettungsanker. Zögerlich willigen die Wirtsleute ein, auf die Schnelle noch eine Pizza in den Ofen zu schieben. Der Nächste von uns, der eine Viertelstunde später in die gemütliche Stube tritt, geht leer aus – so spät kennt man hier keinen Zulauf mehr und in diesen eisigen Regionen überlebt man nicht durch Nachsicht, sondern durch Härte.
Im Anschluss an das Nachtmahl verlaufen sich unsere Wege: der eine geht ins Hotel, der andere taucht irgendwo in der Nacht unter. Ich für meinen Teil lasse mir mit vollem Bauch die Abfahrt ins Rhônetal gefallen – und erneut gewinnt die Zufriedenheit die Oberhand: kaum Wind, die Kälte ist erträglich und die Hälfte ist geschafft. Ich frage mich, was wohl besagter Freund zu dieser Zeit macht. Wahrscheinlich liegt er im warmen Bett. Selbst schuld.
Den Schlag der Turmuhr, der den neuen Tag einläutet, höre ich in Vouvray, und ich lasse mich noch ein gutes Stück weitertreiben. Weder bin ich müde noch wirklich erschöpft, aber nach einer weiteren Stunde der Alleinfahrt komme ich zum Schluss, dass mein bescheidenes nächtliches Glück durch ein paar Stunden Schlaf noch erheblich gesteigert werden könnte, und so nehme ich ein solide gemauertes Brunnenhäuschen zum Anlass, Schlafsack und Isomatte auszurollen und den Wecker großzügig zu stellen. Ab vier Uhr kann es meinetwegen weitergehen, na ja, sagen wir halb fünf...
Die ersten Fahrer des zweiten Tages begegnen mir gegen fünf Uhr in Seyssel, dick eingehüllt in Jacken, Mützen und mit Tüchern vor den Gesichtern. Sie sind durchgefahren und frieren unter dem Schlafentzug. Das Glück des Randonneurs findet man hier noch nicht, befürchte ich. Besser, man fragt gar nicht nach. In Ruffieux, der dritten Kontrolle, treffe ich auf die nächsten. Dies sei wohl das härteste Brevet, das die Breisgauer im Angebot hätten, bekomme ich zu hören, und ich vermisse jede Spur von Euphorie in der Stimme. Der Niedergang unserer Glaubensgemeinschaft scheint unaufhaltsam. Da sucht man wieder den Weg in die Nacht. Der nächste, auf den ich stoße, ist von seinen dreitausend Kilometern beim Transcontinental Race im letzten Sommer genügend leidgeprüft, als dass er zu dieser frühen Morgenstunde irgendetwas Defätistisches von sich geben würde. Wir trinken in der Morgendämmerung gemeinsam Kaffee und essen Schokohörnchen, teilen uns noch ein Stück des Weges, dann hänge ich wieder allein im Wind.
Immerhin rückt das Vercors in Sichtweite. Der Aufstieg auf der Nordseite, so hoffe ich, ist windgeschützt. Auf dem Weg dorthin kommt mir der nächste Kollege unter. Er hat, wie er bekennt, dem Randonneurstum gründlich abgeschworen. Ich höre Äußerungen wie: wie bescheuert war ich, mich hier anzumelden… die restlichen Worte verschluckt eine Böe. Und mehrfach fällt das Wort aufgeben, aber so genau will ich gar nicht hinhören, und verabrede mich mit ihm für eine Pizza in Pont-en-Royans. Ich fahre dann auch vor, um schon mal zu bestellen.
In der Pizzeria am Ortsende dieser bezaubernden Stadt am Beginn des Vercors bekomme ich dann noch die Geschichte von einem unserer Leidensgenossen zu hören, der heute früh schwer traumatisiert in einer Bushaltestelle gesessen sei, und schlimme Sachen von sich gegeben habe. Die Landstraße ist kein Hort der Glückseligkeit. Es wäre vollkommen deprimierend, wäre die Pizza nicht so prächtig.
Die Auffahrt hoch nach Léoncel, der fünften Kontrolle, lässt sich auch in Alleinfahrt ohne grobe Schimpftiraden bewältigen. Erst oben, nach einem Stempel und einem Kaffee in der Bar, faucht der Wind wieder über die Hochfläche, und die Geschwindigkeit ist ähnlich gedrosselt wie in der Steigung, die uns auf neunhundert Meter geführt hat. Eine gewisse Apathie hilft in solchen Situationen sehr. So darf man sich wohl Betschwestern vorstellen, die den zwanzigsten Zyklus beim Rosenkranz hinter sich haben und völlig schmerzfrei auf den harten Kirchenbänken knien. In diesen Gebäuden ist es vollkommen windstill. Für alle Fälle kann man sich eine solche Glücksoption im Hinterkopf behalten.
Die Wende zum Guten setzt ein beim Col de Bacchus auf 1000 Metern, sehr zart allerdings und auch nur insoweit, wie dass es nun vom Vercors heraus ein ordentliches Stück bergab geht, hinunter ins Tal der Drôme. Zwei Anstiege, der Col de Lauzun und der Col de la Sausse, verbleiben; das müsste zu schaffen sein, da kann mich der Wind meinetwegen in Fetzen reißen. In Saou, diesem winzigen provençalischen Juwel, finde ich am Ortsausgang vor einer kleinen, in dieser Gegend völlig unüblichen Brauerei eben jenen an sich liebenswürdigen Mitfahrer, der in den frühen Morgenstunden in der Bushaltestelle vergeblich sein Trauma zu bearbeiten versuchte. Noch immer habe er damit zu kämpfen und habe sich vorsorglich in der Brauerei als weitere Therapiemaßnahme zwei außergewöhnlich gute Biere zugeführt. Seine Stimmung ist so weit stabil, dass ich uns Chancen ausrechne, gemeinsam weiterzufahren, als Brüder im Geiste gewissermaßen.
Nachdem wir im Gegenwind bis Bourdeau vorgedrungen sind – was uns im übrigen lehrt, dass der Wind hier System hat, da er grundsätzlich von vorn kommt, egal in welche Richtung man fährt – bleibt uns als letzer Pass der Col de la Sausse. Meine Beine sind noch brauchbar, aber als hundert Höhenmeter unterhalb der Passhöhe der Wind erneut über die Kante ballert, zieht es mir den letzten Rest an Energie aus den Beinen und ich bin bereit zur Kapitulation. Schluss. Ich ergebe mich. Dies ist kein Brevet, dies ist die Hölle. Ich krieche in einem Tempo, das lediglich verhindert, dass ich vom Rad falle. Und dieser verdammte Wind bekommt Dinge zu hören, die sich gewaschen haben, nachdem ich mich versichert habe, dass niemand sonst in der Nähe ist. Dass ich die Passhöhe überhaupt noch erreiche, ist bemerkenswert, zehren doch auch meine wüsten Beschimpfungen fürchterlich an meinen Kräften.
Immerhin hat dieser Zusammenbruch zur Folge, dass mich mich mein Bruder im Geiste wieder einholt, und den verbleibenden Rest bis Nyons erledigen wir bis zur bitteren Neige zu zweit. Fünfundzwanzig Kilometer – im Gegenwind, versteht sich.
Natürlich habe ich mich noch am selben Abend, im Café La belle Epoque, dem Ziel unserer Unternehmung, erholt von all den schrecklichen Dingen, die mir im Laufe des diesjährigen Ventoux-Brevets widerfahren sind. Genau genommen war es nur eines: der Gegenwind. Und wenn man es sehr genau nimmt, hat er ja auch nicht überall gewütet. Hin und wieder, das schon. Aber auch nicht immer volle Kanne. Man darf sich davon nicht beeindrucken lassen. Und überhaupt: Glaubenskrisen gibt es immer mal, aber am Ende geht man gestärkt daraus hervor. Das kann jeder Theologe bestätigen.
Tags darauf, am Freitag, setzt der Regen ein, von dem wir unterwegs so gut wie verschont geblieben sind. Und das in der Provence. Man muss eine solche meteorologische Wendung nicht weiter hinterfragen. Die meisten der zweiundzwanzig Ankömmlinge reisen weiter nach Bédoin am Fuße des Mont Ventoux und machen einen Tag Pause, Cafés und Kneipen gibt es genügend hier. Wir vertiefen unsere Bruderschaft und bestärken uns gegenseitig in unseren Glauben und auch unsere einzige Mitschwester findet herzliche Aufnahme in diesem Kreis. Auch gedenken wir mit Wehmut all derer, die heute nicht bei uns sein können, und drücken ein Auge zu, wenn dahinter eine grobe Pflichtverletzung zu vermuten ist.
Den Mont Ventoux befahre ich am Samstag. Man braucht etwa zwei Stunden, bis man die sechzehnhundert Höhenmeter niedergerungen hat. Der Wind ist mir diesmal sehr zugetan und bläst mich die Rampen nur so hoch. Oben hängen die Wolken tief, ein gewaltiges Fauchen herrscht um die Sternwarte herum. Großartig. So kennt man diesen Berg. Ich mache ein paar Fotos, dann stürze ich mich vorsichtig in die Abfahrt. Etwa zweihundert Meter. Oder dreihundert. Dann muss ich anhalten. Mir kommt eine Silhouette entgegen, die ich kenne. Mein alter Freund auf seinem Rad, das Gepäck hängt noch dran. Man erinnert sich: der, der sagte, er könne auch ohne Brevetfahren glücklich und zufrieden sein. Wir fallen uns quasi in die Arme und fahren gemeinsam wieder zum Gipfel, und er angelt eine Flasche Rosé aus seiner Tasche. Alles spricht dafür, dass er nicht als reuiger Sünder zu uns gestoßen ist auf seinem eigenen Weg, den er zum Mont Ventoux gewählt hat. Aber führen nicht viele Wege zum Mont Ventoux? Etliche Jahre schon kenne ich ihn und ich ahne, dass er wieder vom süßen Nektar der Landstraße genascht hat. Es ist nicht auszuschließen, dass er ohne Brevets glücklich und zufrieden sein könnte - es gibt Vieles, was ihm zuzutrauen wäre. Oder aber er hat sich einfach mal geirrt. Glaubenskrisen gibt es immer mal, und wer sagt, das kenne er nicht, der, bitte, werfe den ersten Stein.
Strecke (bis Nyons): |
637 km |
Höhendifferenz: |
6300 hm |
Fahrzeit: |
27:42 h |
Schnitt: |
23,0 km/h |
Gesamtzeit: |
37:25 h |