Im Morgenlicht hat der Campingplatz den Anschein einer Kleingartenkolonie. Außer mir hat sich kein Camper hierher verirrt. Die Urlauber führen ihr beschauliches Leben zwischen Wohnwagen und sanitären Anlagen, beäugen mich auf ihrem Weg zum morgendlichen Abwasch neugierig, aber nicht unfreundlich. In meinem winzigen Zelt habe ich nur mäßig geschlafen, fühle mich dennoch ausgeruht. Mit Minimalgepäck reisen heißt Abstriche am Komfort machen. Wichtig: ein Dach über dem Kopf, genug Wärme in der Nacht, Kocher und Geschirr für warme Mahlzeiten und den morgendlichen Milchkaffee: eine goldbraune Brühe, die im Topf reichlich Kaffeesatz hinterlässt. Was für ein Genuss! Mehr als auf das Frühstück freue ich mich jedoch auf einen neuen Tag in der Sonne, auf Passstraßen, die sich zäh über die 2000 m Grenze winden. Heute ist es soweit... Es braucht seine Zeit, bis Brote und Müsli vertilgt sind, ich esse, was mein Magen fasst, versuche gegen Ungeduld und Nervosität anzukämpfen.
Vor 9h ist alles wieder in den Taschen verpackt und talwärts rolle im mich ein, zurück nach Langnau. Weiter nach Zäziwil, wo ich auf den Radweg nach Thun stoße; ich zögere, weil ich mit meiner Rennbereifung nicht auf Schotterpisten landen möchte. Aber ich habe Glück. Auf fast verkehrsfreien Sträßchen verläuft die Route durchs Berner Oberland - die gute Beschilderung erspart mir manchen Blick in die Karte - und noch vor dem Mittag erreiche ich Thun und den Thuner See, entscheide mich für die Strecke entlang des Südufers, die sich überwiegend zwischen der Schnellstraße und dem See entlang schlängelt. Ruhiges Dahingleiten über Spiez, Interlaken, Wechsel zum Nordufer des Brienzer Sees, wie ein langer, konzentrierter Anlauf für die Auffahrt, die mich am Nachmittag noch erwartet. Von Zeit zu Zeit der freie Blick auf die glitzernden Gletscherfelder von Eiger, Mönch und Jungfrau. Sie rücken näher. Die Mittagsstunden sind verkehrsarm.
Vor Innertkirchen versorge ich mich an einer Tankstelle mit Proviant für den Tag. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich bis zur Passhöhe des Grimsel noch eine weitere Gelegenheit dazu findet, danach werde ich kaum mehr ein offenes Geschäft antreffen. In Innertkirchen überkommt mich die Lust auf Salat und Pizza, und entgegen meinem Selbstversorgerprinzip beschließe ich, einzukehren - die Schweizer Gastronomie lässt es allerdings nicht soweit kommen: um 14h ist es für Warmes zu spät. Also lege ich Rast am Fuße der Passstraße ein, im Schatten eines Baumes, für ein Nickerchen bin ich zu aufgeregt. Zerlaufene Butter und fetttriefender Käse liegen überdies schwer im Magen, aber später werde ich hoffentlich froh darum sein. Über 30 km windet sich mein Weg entlang der Aare bergan, es gilt, mit seinen Kräften hauszuhalten. Das anfängliche Gefühl der Unverwundbarkeit weicht andernfalls zunehmend einer Erschöpfung, die zermürbt und das Unterfangen zur reinen Qual werden lässt. Die Auffahrt zieht sich hin, aber meine Beine verrichten ihre Arbeit ordentlich und schmerzfrei, meine Lungen genießen die Bergluft in raschen Atemzügen. Es gibt Momente, da möchte ich absteigen, ausruhen, doch ich halte meinen Rhythmus aufrecht, bis rechter Hand der Grimselsee in seinem eisigen Blau auftaucht; neben der Staumauer ein imponierender Bau auf einem Fels, das Hospiz. Auf die Frage nach Ursprung und Zweck des Bauwerks weiß ich keine Antwort. Mich zieht die scharfe, aufsteigende Linie der Straße zwischen den Schneefeldern auf der anderen Seite des Sees in ihren Bann: ein Anblick, der Willen und Leidensfähigkeit einer letzten Prüfung unterzieht.
Die Passhöhe: Durchatmen, Glücksgefühle genießen. Es ist kühl, der Totensee ist weitgehend zugefroren. Eine andere, lebensfeindliche, ernste Welt ist dies hier. Gänzlich ungeeignet als Kulisse für die Spaßgesellschaft, die die Grandiosität dieser Bergregion erst dort wahrzunehmen scheint, wo sie ihr bereits zum Opfer gefallen ist.
Der Nachmittag ist bereits weit fortgeschritten und auf 2165m ist von der Hitze im Tal nichts mehr zu spüren. Von meinem ursprünglichen Plan, über den Furkapass weiterzufahren, bin ich abgekommen. Ich würde wieder bis in die Nacht hinein fahren müssen, und meine Erschöpfung tut ein Übriges. Am Kiosk gibt's zur Belohnung einen Schokoriegel für sofort und ein Bier für den Abend. Die Abfahrt führt mich über steile, enge Serpentinen nach Gletsch, eine kleine Siedlung auf über 1700m Höhe. Hier entspringt der Rhône, der mich an ganz andere Klimaregionen erinnert. Ein Blick nach Osten auf den mächtigen Bergrücken des Furkapasses (2431m) lässt mich frösteln und ich bereue meine Entscheidung nicht, knapp 20km weiter südwestlich in Ulrichen zu nächtigen. Jahrhunderte alte Chalets säumen die Straße, linker Hand der riesige, zu dieser Zeit ausgestorbene Bahnhof vor Ulrichen, alles scheint sehr unwirklich.
Zwei deutsche Motorradfahrer donnern an mir vorbei, der Lärm ihrer Maschinen hallt durch das Hochtal. Ich sehe die beiden auf dem Campingplatz wieder, stelle mein Zelt fernab von ihrem auf. Müdigkeit überkommt mich und eine tiefe Zufriedenheit, ich beschließe den Abend schweigend, lege mir eine neue Route für morgen zurecht und verschwinde, als die Nacht hereinbricht, in meinem engen Zelt. Schlaf gut, mein Lieber.
Strecke |
151 km |
Zeit |
7:53 h |
Schnitt |
19,2 km/h |