Flèche Allemagne Offenburg, 29.05.2014 9 Uhr
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Beim Flèche Allemagne ist der Kapitän gewissermaßen das geistige Oberhaupt einer Truppe, deren Aufgabe es ist, in exakt vierundzwanzig Stunden mindestens 360 Kilometer zurückzulegen, um sich vor Ablauf der Zeit auf der Wartburg in Eisenach in die Arme zu fallen. Er trägt im Wesentlichen Sorge dafür, dass er seine Mannen frohgemut der in diesem irdischen Jammertal größtmöglichen Beglückung entgegenführt. Man muss sich unter einem echten Kapitän also einen Menschen vorstellen, der es gewohnt ist, Verantwortung zu tragen und die erforderliche spirituelle Eignung besitzt. Ein solcher Kapitän steht nun wieder vor uns, standesgemäß dem ICE aus dem Norden entstiegen, während uns, seinen Knappen, von Süden kommend, nur die Anreise im einfachen Nahverkehrszug vergönnt war. Es ist schön zu sehen, dass auch unser hochverehrter Käptn in den zwei Jahren, die wir uns nicht mehr gesehen haben, kein bisschen gealtert ist - genausowenig wie seine treue Mannschaft. Man blickt in strahlende, jugendliche, quasi faltenfreie Gesichter. Wüsste man nicht, dass bereits erwachsene Kinder in unserem Windschatten in die Welt hineingewachsen sind, hätte man als Verkäufer von Alkoholika das Gefühl, nach dem Ausweis fragen zu müssen. Man blickt dem Käptn in die stahlblauen Augen und ohne ein Wort zu sagen, versteht man deren Botschaft: Jungs, wie erbärmlich euer Leben auch sein mag - folgt mir! Und keiner zweifelt daran, dass der Weg zur größtmöglichen Beglückung vor uns liegt - auf Straßen, die der Käptn in minutiöser Kleinarbeit für uns ausgesucht hat. Bedauern darüber, dass wir dieses Jahr erst in Offenburg losziehen und uns somit ein Fünftel der Wegstrecke des Jahres 2012 schenken, kann man nicht erkennen. Auch 440 Kilometer scheinen noch genug, um einen Blick ins irdische Paradies zu erhaschen. Wie junge, ungestüme Fohlen stieben unsere Räder vom Badischen aus gen Norden. Mit einer Spezialbrille könnte man bestimmt erkennen, wie in unserem Sog ein goldfarbener Glücksschweif schimmert.
Anfänglich müssen noch Missverständnisse in der Kommunikation ausgeräumt werden. Ruft Reiter U. beispielsweise "gemach, gemach", legt Reiter A. die Kette rechts, weil er "gib Gas, gib Gas" verstanden hatte. Oder Reiter U. schwenkt in der irrigen Annahme eines entsprechenden Kommandos unseres Käptns auf den Radweg ein. Oder brüllt an der orangefarbenen Ampel "Stopp" und fährt weiter. Das Team muss zusammenwachsen. Genau in diese Richtung geht die Maßnahme unseres geistigen Führers beim Eintreffen in der ersten Kontrolle, einem Biergarten in Ettlingen, bei Kilometer 67. Eine Runde Bier. Nun ist es nicht eindeutig, ob die Regularien des Flèche Bier vor 12 Uhr überhaupt zulassen, ein entsprechender Passus dazu will mir nicht einfallen. Da aber Vatertag ist, scheint die Maßnahme gerechtfertigt. Drei von uns haben Nachwuchs, aus statistischen Gründen können wir einen Vierten hinzurechnen. Reiter A., der Jüngste, muss Cola trinken. Nach Ausweisen werden wir nicht gefragt, was daran liegen mag, dass wir sofort unaufgefordert unsere Kontrollkärtchen zum Stempeln vorlegen.
Die Aktion trägt Früchte. Die Fahrt zur nächsten Kontrolle läuft sehr geschmeidig und ohne weitere Zwischenfälle. Wir folgen den Wegen des Käptns. Die deutschen Straßen sind breit und von gutem Belag. Selbst zwei SUVs können sich bei hoher Geschwindigkeit begegnen, wenn nicht gerade fünf Radfahrer den Verkehrsablauf behindern. Wäre das Glück eine endliche Ressource, würde neben Extremkletterern und Wingsuit-Flyern für Menschen, die mit ihren Stahlrössern einfach nur stundenlang über Asphalt jagen, wohl nichts mehr übrig bleiben. Erstaunlicherweise fällt aber auch für die wilden Reiter ihr Quäntchen ab, auch ohne sich der Gefahr auszusetzen, an irgendwelchen Felswänden zu zerschellen. Allein, dass der Wind zunehmend aus der Gegenrichtung kommt und die Sonne mit jedem weiteren Kilometer nordwärts mehr und mehr hinter grauen Schleiern verschwindet, schmälert unser Glück und den fröhlichen Galopp unserer Fohlen. Aber kaum dass wir in Ettlingen wieder aufgesessen sind, steht achzig Kilometer weiter schon wieder die nächste Kontrolle an.
Teambildende Maßnahmen scheinen diesmal nicht notwendig - in der Tankstelle begnügen wir uns mit Kaffee und Süßgetränken.
Was Wertheim anbelangt, der dritten Kontrolle auf unserer Fahrt, so ist dazu positiv zu sagen, dass es am Main liegt und für uns Halbzeit bedeutet. Negativ fällt ins Gewicht, dass wir in der vorgesehenen Pizzeria, als wilde Reiter angekündigt, auch wie wilde Reiter empfangen werden: nämlich gar nicht. Bereits auf der Eingangstreppe werden wir von einer in adrettem Schwarz gekleideten Führungskraft des halb leeren Etablissements unmissverständlich der Schwelle verwiesen - es sei ausgebucht. Die Reiter suchen sich eine trockene Tränke in der Nachbarschaft. Eine Ausweiskontrolle bleibt aus. Dies kommt allerdings nicht überraschend, da wir im strömenden Regen der vergangene Stunde sichtlich gealtert sind. Erschwerend kommt der Zustand des Käptns hinzu, dessen Magenprobleme seinem jugendlichen Teint zugesetzt haben.
Als wir eine Stunde später weiterfahren, liegt Deutschland im Dunkeln. Der Käptn leidet weiter, trotz Tee, Alkoholabstinenz und der pharmazeutischen Betreuung durch seine Knappen. Sein Pferdchen lahmt erkennbar, besonders die Anstiege machen ihm zu schaffen. Der Regen prasselt noch eine gute Weile auf uns nieder, während wir, lange Zeit dem Main folgend, uns der Rhön nähern. Die Temperaturen sacken in den Keller, 3° zeigt die Anzeige. Käptns Gaul wird zu einem störrischen Esel. Die Mannschaft zerstreut sich in der Nacht. Der Weg der größtmöglichen Beglückung zieht sich schwer in die Länge. Die vierte Kontrolle, ein Rasthof in Eichenzell nahe Fulda, sorgt immerhin für eine gewisses Behagen. Die Reiterschaft legt sich für 20 Minuten auf die weichen Polster der Sitzmöbel.
Im ersten Morgenlicht windet sich der Klepper des Käptns bis zur ehemaligen Landesgrenze, der Zustand seines Besitzers sinkt rapide. Es ist ein Elend, das Ganze mitanzusehen. Dass die Wahlplakate einer rechtsnationalen Partei, die in dieser Gegend auffällig oft Laternenpfähle verschandelt, den Brechreiz unseres Käptns verstärken, kann als gesichert gelten. Es ist nicht fair, dass die Verantwortlichen auch eine Woche nach den Europawahlen der Gesundheit der Bevölkerung noch derart zusetzen dürfen. Wir müssen unseren Käptn zurücklassen, irgendwo am Straßenrand. Tief gebeugt über sein störrisches Ross. Er ist gealtert.
Wir vier Verbleibenden retten unsere Haut. Legen in Vacha die obligatorische Sieben-Uhr-Kontrolle ein, und ziehen weiter gen Eisenach. Kurz vor Zielschluss hoppeln wir über die gepflasterte Auffahrt zur Wartburg. Einer fehlt.
Der Käptn wäre jedoch nicht der Käptn, wenn er seine Mannen am Ziel nicht persönlich in Augenschein nehmen würde, um sich zu versichern, dass alles ordentlich verlaufen ist. Vorgealtert, wie er in dieser Phase der Unternehmung ist, braucht dies eine gewisse Zeit. Doch er kommt und sieht: alles ist ordentlich verlaufen. Man sieht ihm seine Erleichterung an. Eine große Last fällt von ihm ab. Er wirkt um Jahre jünger. Ein Hauch von Seligkeit legt sich über die Wartburg. Die Mission ist erfüllt.
Strecke: |
442 km |
Höhendifferenz: |
3660 hm |
Fahrzeit: |
18:25 h |
Schnitt: |
24,0 km/h |
Gesamtzeit |
23:45 h |