ARA Breisgau: 300 km Freiburg, 25. April 2015, 8:30 Uhr
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Auch um sieben Uhr sind die Berge der Brötchen, die auf dem Frühstücksbuffet im Augustiner ihres Verzehrs harren, fast so gewaltig wie die Berge des Schweizer Jura - wenn auch nicht maßstabsgetreu - und nur wenige Tische sind besetzt. Das ist ungewöhnlich für einen Brevetmorgen, wo es zu dieser Zeit meist zugeht wie im Taubenschlag. Draußen herrscht das in der aktuellen Randonneurssaison angesagte Wetter: graues Gewölk mit schwärzlichen Verunreinigungen. Das dominierende Gesprächsthema ist, ob es schon regnet oder ob es noch nicht regnet, und die Ersten beginnen zu witzeln, dass wir heute wohl in vier Fünfergruppen starten würden. Macht zwanzig Leute. Am Ende werden es dann doch mehr und die Berge auf dem Buffet schwinden zusehends. Aber dreißig Teilnehmer, so hören wir später, wehren sich gegen die herrschenden Wetterverhältnisse durch Boykott.
Die anderen, und das sind immerhin noch hundert Leute, fügen sich den widrigen Umständen und lassen sich schließlich auch zum Aufbruch nötigen. Richtig eilig haben sie es nach meinem Eindruck nicht, ihre Vertragsschuld - die dreihundert Kilometer durch Südschwarzwald und Schweizer Jura - die sie mit dem dem Ausfüllen des Anmeldeformulars eingegangen sind, abzutragen. Gemeckert wird nicht: wahrscheinlich hat wieder keiner das Kleingedruckte im Vertrag gelesen und so weiß niemand, ob man nicht eine Zeitstrafe riskiert, wenn man den Organisatoren gegenüber bessere Wetterbedingungen einfordert. Also beugt man sein Haupt und trollt sich. Noch ist es ja trocken.
Man wundert sich dann doch, dass es zu keinen heftigeren Gefühlsausbrüchen kommt, obwohl es das dritte Brevet dieses Jahres ist, wo das Wetter just zum Tag des Ereignisses umschlägt. In meiner Gruppe, die sich an Kirchzarten vorbei ostwärts bewegt, um sich schon bald darauf mit einer Eselsgeduld am Rinken zu schaffen zu machen, herrscht überwiegend beredtes Schweigen. Jeder ist froh, dass er auf dem Weg auf 1197 Meter Höhe keine Regenjacke braucht. Daneben gibt es Einzelne, die sich positiv über die Landschaft auslassen.
Auch der moderne Mensch, obwohl aufgeklärter Nach-Achtundsechziger, hat gelernt, sich mit dem Ungemach des Lebens zu arrangieren. Die Verhältnisse sind viel zu komplex, als dass man wüsste, wem man für was eins in die Fresse hauen könnte, was in einstigen dörflichen Gemeinschaften einfacher war. Wenn das Bier oder das Brot verdorben war, hatten Wirt und Bäcker nichts zu lachen. Nur der Pfarrer war eine Ausnahme, obwohl man ja gerade den für Unwetter und andere Naturkatastrophen hätte hernehmen müssen. Bis heute wird der Klerus verschont. Oder hat schon mal jemand erlebt, dass es wegen schlechten Wetters einen Shitstorm gab gegen den Vatikan, der sich rühmt, den besten Draht zur himmlischen Allmacht zu haben? Klar kann man zu Zeiten des Klimawandels nicht alles auf den Allmächtigen schieben, aber im Wissen darum, dass am 25. April ein Brevet steigt, hätte er dies, als halbwegs anständiger Kerl, in der Wettergestaltung zu berücksichtigen. Möglicherweise wurde er vom Bauernverband bestochen, weil dieser für seine Mitglieder Regen fordert zwecks Steigerung der Erträge. Seit man weiß, dass der Verband zum Boykott gegenüber einem deutschen Autokonzern aufgerufen hat, weil dieser in seinen Kantinen vegetarisches und veganes Essen propagiert, traut man ihm alles zu. Gegen eine solche Lobby kommen Brevetveranstalter nicht an. Das einzige, was in solchen Fällen eklatanten Machtgefälles hilft, ist der Massenprotest. Aber davon, man muss es leider sagen, sind wir Randonneure an diesem Samstag meilenweit entfernt. In dieser Hinsicht fehlt uns jegliches Training. Vorsorglich und mit stummer Ergebenheit streife ich mir auf dem Rinken die Regenjacke über und begebe mich mich mit drei, vier anderen in die kühle Abfahrt nach Hinterzarten. Die Schuhe füllen sich sachte mit Spritzwasser, das vom letzten Schauer übriggeblieben ist.
Auch im Albtal finden sich Leute, die die landschaftliche Schönheit bemerkenswert finden. Die Sonne tut so, als würde sie nur darauf warten, die Wolken zu durchbrechen. Sie hält uns zum Narren, wie andere Energieversorger auch. Aber man freut sich ja schon an dem wenigen, was einem zum Fraß hingeworfen wird. Die Stimmung ist erstaunlich gut, als wir nach der zweiten Kontrolle in Albbruck den Rhein queren und das Schweizer Jura in Sichtweite rückt.
Haben wir doch ein Glück!, höre ich allenthalben rufen, während die trockenen Straßen des Rheintals unter uns hindurchziehen, und ich ertappe mich selbst dabei, wie ich ähnlichen Unsinn zum Besten gebe. Zugegeben, es ist warm, aber: auf Knielinge und Überschuhe will ich nicht verzichten, zudem liegt die Regenwahrscheinlichkeit bei neunzig Prozent: die Faust im Nacken ist unser steter Begleiter. Und was tun wir? Wir arrangieren uns, so wie wir uns mit der nächsten Finanzkrise arrangieren, dem Klimawandel und unserem eigenen Ableben. Die Erde ist ein Jammertal. Und wir fahren mitten hindurch, was man besonders deutlich im Schweizer Jura vor Augen geführt bekommt. Die Anstiege sind fürchterlich und die Abfahrten gleichen einem Sturz ins Ungewisse. Und doch - es kommt einem angesichts von so viel Mühsal nicht leicht über die Lippen - ist die Landschaft wunderschön. Wie das Leben - manchmal. So schön jedenfalls, dass man davon absieht, mit gereckter Faust durchs Land zu radeln, was hier auch gar keinen Sinn machen würde, da man beide Hände am Lenker braucht.
Die Stimmung im Bölchenhaus: erstaunlich gut. Man gönnt sich Spaghetti und begibt sich auf den beschwerlichen Weg zum Scheltenpass. Allenfalls leichte Regenschauer beeinträchtigen die Fahrt dorthin. Selbstverständlich trauen wir der himmlischen Allmacht nicht über den Weg. Zunächst aber befassen wir uns mit dem Scheltenpass, ein überaus garstiges Hindernis auf dem Weg nach Délemont: in weiten, steil ansteigenden Kehren windet man sich aus der bestechend grünen Talsohle auf die auf 1050 Meter gelegene bewaldete Passhöhe hoch. Irgendwie schaffe ich es, oben anzukommen. Dann bleibt nur noch die Abfahrt nach Délemont. Stopp an der ersten Tankstelle des Ortes. Die Stimmung ist gut, was diesmal nicht erstaunlich ist, denn das Schlimmste liegt hinter uns. Und noch immer regnet es nicht. Man hält uns hin. Und wieder höre ich: Haben wir doch ein Glück! Quatsch. Im Westen brodelt es: dunkle Wolkenmassen warten nur auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen.
Nachdem wir die letzten schweren Hügel im schweiz-französischen Grenzgebiet niedergetreten haben, ist es in Feldbach endlich so weit: kaum dass wir in der Ortsmitte die Kontrollfrage gelöst haben, wo nach zivilen Opfern des Krieges 14/18 gefragt wird, werden wir zum Opfer eines zivilen Regengusses. Mir ist fast so, als ob ein Aufatmen durch die Gruppe ginge: es ist so weit. Wir wussten es ja.
Der Regen stellt sich als harmlos heraus, außerdem packt uns der Wind von hinten und wir jagen bei leichtem Druck auf die Pedale mit 40 Stundenkilometern übers Land nach Norden. So viel Entgegenkommen himmlischerseits macht misstrauisch. Die riechen den Braten. Die wissen: wenn wir nicht schnell ein paar Brotkrumen hinwerfen, fallen da welche vom Glauben ab. Später fahren wir an Fessenheim vorbei, der ältesten noch aktiven Atomanlage Frankreichs. Nach offiziellen Berichten genügt sie längst nicht mehr den heutigen Standards. Man sollte am Zaun rütteln oder zumindest seine Notdurft hier verrichten. Aber die Mächtigen schaffen es stets aufs Neue, uns zu beschwichtigen. Bis jetzt ist auch nichts Verheerendes passiert. Schwein gehabt. Die Notdurft verschieben wir bis zur Zielankunft.
Zusammenfassend muss man sagen: es war wieder eine phantastische Tour. Tolle Landschaft. Die Stimmung super. Dies sind die Momente, wo man schwach wird. Wo spätestens nach dem zweiten Weizen im Augustiner der Kampfeswille gegen Null geht und man dem Bauernverband, den Saatgutkonzernen oder anderen Regenlobbysten wie etwa Schneckenkornproduzenten, den Sieg übers Wetter großmütig überlässt. Ein Fehler.
Tags darauf, dem 29. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, habe ich mich wieder berappelt und ich begebe mich zu Schulungszwecken nochmals nach Fessenheim. Ein paar Tausend Menschen sind vor Ort und zeigen, wie man es anzustellen hat, wenn einem die Verhältnisse nicht passen. Der Fortschritt ist zwar eine Schnecke, aber der Druck der Straße wächst und in absehbarer Zeit werden sie den Schrottreaktor wohl abschalten müssen, hoffentlich noch bevor er uns um die Ohren fliegt und die Breisgauer Brevets tausend Kilometer nach Osten verlegt werden müssen - falls dann die dortigen Grenzen nicht in die andere Richtung dicht gemacht werden. Ist dieses Nahziel, die Stilllegung diese Fossils aus den Siebziger Jahren, erst einmal erreicht, kümmern wir uns um die Schweinerei mit dem Wetter. Dann aber richtig. Und die Zeit wird kommen, wo man Regenbrevets nur noch vom Hörensagen kennt.
Strecke: |
300 km |
Höhendifferenz: |
4260 hm |
Fahrzeit: |
11:57 h |
Schnitt: |
25,1 km/h |
Gesamtzeit: |
13:25 h |