Dienstag, 18.06.2013
| Strecke |
Die Aussicht, heute von Bonifacio aus nach Sardinien überzusetzen, verfängt nicht, obwohl uns nur ein paar Kilometer bis zur Südküste Korsikas bleiben. Das wäre in wenigen Stunden zu machen. Aber wozu? Dem ewigen Weiter, Weiter werden wir heute einen Riegel vorschieben. Ist es nicht schon genug, dass man seine Zeit nicht anhalten kann? Muss man dann auf Reisen immer weiter vorandrängen? Nein. Man kann statt dessen ein gediegenes Frühstück in der Morgensonne planen. Dies setzt allerdings voraus, dass die nach dem gestrigen Abend wie Eis in der Sonne dahingeschmolzenen Vorräte zu ergänzen sind. Also doch wieder weiter, und wenn's nur zum nächsten Ort mit Einkaufsmöglichkeit ist. Unglücklicherweise entscheide ich mich für Figari, was sich im Nachhinein insbesondere mit nüchternem Magen nicht nur mit fünf Kilometern als die deutlich weitere Strecke herausstellt - verglichen mit Sotta -, sondern auch als Ort ohne eigene Bäckerei. Die Zeit bis zur Öffnung des Supermarktes verbringe ich im gegenüberliegenden Café, wo ich korsische Lebensart aus der Nähe studieren kann. Eine Ladenöffungszeit von acht Uhr hat zur Folge, dass sich die Angestellten mit dem Acht-Uhr-Geläut der Kirchenglocken anschicken, ihren angestammten Platz an der Theke meines Cafés zu räumen, um - in unaufschiebbare Gespräche vertieft - zum Personaleingang des Marktes zu schlendern. Fünf bis zehn Minuten später werden dort die ersten Lebenszeichen sichtbar. Bis Brot erhältlich ist, vergehen noch weitere lange Minuten. Die Ungezwungenheit, mit der in diesem ansonsten unbedeutenden Ort Figari mit Arbeitskraft verfahren wird, setzt Maßstäbe. Aber vielleicht sollte man gar nicht allzu detailliert davon berichten, um den Beschäftigten nicht eine ganze Meute von Qualitätsmanagern an den Hals zu hetzen. Eine Stunde nach meinem morgendlichen Aufbruch am Campingplatz treffe ich dort mit allem, was ein gutes Frühstück ausmacht, wieder ein.
Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, bis die Räder gepackt sind und wir den Campingplatz hinter uns lassen. Ein zweiter Besuch im Supermarkt in Figari zeigt, dass die Maschinerie angelaufen ist, und die Zeit, die wir benötigen, um unsere Taschen mit überwiegend korsischen Lebensmitteln zu füllen, sprengt nicht den Rahmen des Üblichen.
Seit Tagen hatten wir kaum Verkehr auf den Straßen, so dass selbst das bescheidene Aufkommen auf der D 859 eine Umstellung erfordert: wir fahren wieder hintereinander. Erst die N 196, auf die wir wenige Kilometer nach Figari einbiegen, macht uns bewusst, dass die Küstenstraßen nicht nur Traumstraßen sind, wenngleich die Ausblicke auf die Buchten am Meer durchaus reizvoll sind. Von einem Bad sehen wir jedoch ab: zu den kleinen Buchten jenseits der Macchia führen nur kleine, sandige Pfade und es wäre mühsam, sie mit dem Rad anzusteuern. Auf diese Weise gelangen wir sehr zeitig zu unserem Tagesziel, einem Campingplatz unweit der Ermitage de la Trinité, einer Einsiedelei hoch auf einem Gebirgsvorsprung vor Bonifacio.
Das beeindruckendste an diesem Campingplatz sind nicht so sehr die Ausblicke auf das Blau des Meeres unterhalb, sondern die ungeheure Aktivität der Ameisen, die für Korsika - sieht man einmal ab vom Autoverkehr in Bastia - in höchstem Maße untypisch ist. Vielleicht ist dies der Charme Korsikas: dieses Nicht-Wichtig-Nehmen der Dinge, ein Sich-Treiben-Lassen. Eine Form der Schwerelosigkeit, die uns Kontinentaleuropäern fremd ist, weil wir nicht die klimatischen Vorzüge genießen, die einem keine andere Wahl lassen, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Vielleicht auch, weil sich die kontinentaleurpäischen Länder seit Jahrhunderten im ständigen Wettbewerb befinden - was den Inselbewohnern vollkommen egal sein kann. Im Zuge der verschiedensten Eroberungen und Unterwerfungen unter fremde Mächte haben sie gelernt, dass das Leben unter der Sonne des Südens so weiter geht, wie bisher. Mehr lässt die Hitze ohnehin nicht zu. Mehr wollen sie auch nicht. Aber für den Erhalt dieses Privilegs sind sie bereit, Bomben zu legen. An den Ameisen kann man trefflich studieren, wohin alles andere führt: kaum liegen Brot und Käse auf den Steinen, fällt eine Armada darüber her. Ihre Arbeitswut verbietet jeden Respekt vor dem Eigentum anderer, jedes Nachdenken über den Sinn des Lebens.
Am Nachmittag unternehmen wir einen Spaziergang hoch zur Ermitage. Der Blick über die Küstenausläufer ist großartig. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass, wer an einem solch außergewöhnlichen Ort lebt - besonders wenn er die Neigung zum Müßiggang verspürt - auch zu Glauben und Frömmigkeit neigt, um dieses beschaulichen Dasein mit dem Segen von ganz oben abzusichern. So vergeht der Nachmittag, der letzte, den wir auf Korsika verbringen. Morgen um diese Zeit werden wir nach Sardinien übergesetzt haben und uns auf die Suche nach einer anderen Niederlassung begeben haben, wo wir dem Meer unsere Referenz erweisen werden, die vor allem darin besteht, Stunde um Stunde in die Fluten zu starren, und dem ewigen Weiter, Weiter Einhalt zu gebieten. Es gibt Menschen, die ein Leben lang mit geblähten Segeln durch die Fluten der ihnen zugedachten Zeit segeln, nie schnell genug, nie weit genug. Wer durch Korsika reist, könnte Gefallen daran finden, von Zeit zu Zeit die Segel einzurollen und sich treiben zu lassen, im Spiel der Wellen. Mir kommen die Friedhöfe in den Sinn, die nirgendwo so exponiert sind wie auf Korsika. An den schönsten Stellen der Ortschaften ruhen ihre Toten, beschenkt mit dem Ausblick auf die zauberhaften Küsten und die Landschaften der Ile de la Beauté, der Insel der Schönheit. Der Eindruck drängt sich auf, dass im Denken der Insulaner die Ewigkeit stärker mit dem Hier und Jetzt verwoben ist als anderswo.
Mit einem ordentlichen Diner verabschieden wir uns im Geiste von Korsika. Auf der Terrasse des Campingplatzrestaurants bläst zum Abend hin der Küstenwind mit einer Vehemenz, wie wir sie bisher nicht erlebt haben. Das sind die rauen Seiten der Insel. Die Ameisen verziehen sich langsam in ihre Schlupfwinkel und drüben in Bonifacio, auf das wir von hier aus sehen können, finden die engen Straßen für ein paar Stunden Entlastung von den viel zu vielen Autos, die über die Stadt herfallen. Dort werden wir morgen Mittag wieder schwere Schiffsplanken unter unseren Füßen spüren und mit Zuversicht auf die nächste Insel blicken: Sardinien. Eine Woche später, wird unser Schiff auf dem Rückweg nach Marseille wieder einen Stopp im korsischen Propriano einlegen und wir uns beim Blick auf die Gebirgszüge die Frage stellen, ob wir nicht vielleicht besser auf den Ausflug nach Sardinien verzichtet hätten, um noch tiefer die Schönheit Korsikas einzudringen. Dann eben ein andermal.
Strecke: |
31 km |
Zeit: |
1:29 h |
Schnitt: |
20,4 km/h |
Höhendifferenz: |
310 m |