Freitag, 31.Juli 2020
| Strecke |
Dieses Jahr macht der Deutsche in Deutschland Urlaub, und wenn der Deutsche in Deutschland Urlaub macht, dann bevorzugt mit seinem SUV – wenn es darum geht, Frau und Kinder zu verteidigen, ist ein solcher Rammbock für viele zur Standardwaffe geworden. Es sind rechtschaffene Menschen, die jeden Monat ihren Ratenkredit pünktlich bezahlen und Urlaub verdient haben. Als Radfahrer möchte man ihrem Urlaubsvergnügen weder im Schwarzwald noch sonst irgendwo im Wege stehen und überlegt sich, ob man bei der Aussicht auf vier freie Tage sein eigenes muskelbetriebenes Small-Utility-Vehicle nicht auch woandershin lenken könnte, dorthin wo man wirklich niemanden stört. Quer durch die französische Provinz zum Beispiel.
Als Erklärung mag dies reichen, wie es dazu kommt, dass ich am Freitag, den 31. Juli, morgens um halb sieben mit verpacktem Rad in Freiburg in den Zug steige, der mich nach Müllheim/Baden bringt, um den Anschlusszug nach Mulhouse zu nehmen. Dort rollt kurz nach der Ankunft der TGV nach Paris ein, den ich wiederum in Dijon ohne mich weiterziehen lasse, um nach Montbard umzusteingen. Von Montbard aus, so mein Plan, würde ich eine recht anspruchslose, so gut wie verkehrsfreie 500-Kilometer-Strecke über Land bis Nantes antreten, wo ich Tags darauf am frühen Abend einzurollen gedenke. Vor Jahren war ich weniger zimperlich und begann meine Tour gleich in Freiburg, allerdings auch mit etwas mehr als vier Tagen Zeit im Gepäck. Aber Nantes musste es sein, unbedingt. Und dann noch einen Abstecher an die Atlantikküste.
Montbard also, Startort. Der weißgetünchte Provinzbahnhof liegt zur Zeit meiner Ankunft, um 10 Uhr 15, fast menschenleer in der Sonne. In Dijon war ich klug genug, mir auf dem Bahnhofsvorplatz ein zweites Frühstück zu gönnen und ein Stück Pizza aus der Bäckerei als Proviant, so dass ich mich hier sofort der Landstraße nach Westen zuwenden kann, ohne mich mit der Suche nach einer Einkaufsmöglichkeit aufzuhalten. Auch war ich vorausschauend genug, noch im Zug meine Haut mit Sonnenmilch zu versorgen – der heißeste Tag des Jahres ist für heute angekündigt. Als mir gleich beim ersten Anstieg der Schweiß von der Stirn tropft, ahne ich, was da an Hindernissen auf mich zukommen könnte.
Schon beim nächsten Brunnen unterbreche ich meine Fahrt, um eine Mütze Wasser über meinen Kopf zu schütten. Wie angenehm, wenn das kühle Rinnsal den Rücken hinunterläuft! Ich fasse den festen Vorsatz, bei allen Brunnen anzuhalten, die auf meinem Wege liegen.
Es sind viele Brunnen, die es anzusteuern gilt, die den Rhythmus des Fahrens unterbrechen und im Gegenzug für etwas Abkühlung sorgen. Dazwischen liegen abgeerntete Getreidefelder, deren Stoppeln in der Sonne verdorren, Weiden, auf denen sich die Kühe um die dürftigen Schattenplätze drängen, Sonnenblumenfelder, deren Bevölkerung schicksalsergeben das Haupt senkt und nur auf die Erlösung durch den Sensenmann zu warten scheint. Hin und wieder liegt eine dieser blassblauen Masken am Wegesrand, die man in diesem Sommer überallhin mit sich führt. Die Besitzer selbst sind verschollen, wohin auch immer. Die Dörfer sind wie ausgestorben, selbst der Verkehr auf den Straßen ist zum Erliegen gekommen. Es sind die Hundstage, la canicule, wie sie der Franzose nennt. An einem kleinen Supermarkt in Joux-la-Ville finde ich noch ein paar Ergänzungen zum Mittagsmahl. Der Besitzer hält sich dezent im Wirkungsbereich seines Ventilators auf, wischt sich die Stirn und scheint froh zu sein, dass mein Einkauf nicht lange dauert. In der angrenzenden Bar sitzen ein paar Arbeiter jüngeren Alters beim Bier, sie streifen mich kurz mit ihren Blicken, die Hitze scheint sie sprachlos zu machen. Davor brutzelt ein schwarzer Pickup mit weit geöffneten Türen in der prallen Sonne.
Beim Weiterfahren spüre ich, wie der Untergrund schwammig wird. Gleich darauf zeigt sich bei näherer Untersuchung, dass sich in der Hitze ein Flicken vom Schlauch gelöst hat. Meine Devise ist, niemals mit geflickten Schläuchen auf Tour zu gehen, schon gar nicht im Sommer. Ich sollte mich daran halten. Der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit hat zur Folge, dass ich mein Rad hundert Meter durch die Sonne schieben muss, um mich im schmalen Schattenstreifen eines Hauses an den Wechsel des Schlauches zu machen.
Auf einer Bank im Halbschatten am Ufer der Cure, die unter den Brückenbögen lautlos vor sich hinplätschert, finde ich eine halbe Stunde später zu meiner Gelassenheit zurück. An der Straße parkt ein Kleinwagen mit einem jungen Paar hinter den getönten Fenstern. Sie genießen ihr Urlaubsglück bei laufendem Motor und laufender Klimaanlage, Es ist tatsächlich brachial heiß heute und die Route ist deutlich welliger, als ich mir das vorgestellt hatte. Bislang kam der Wind jedoch dezent von hinten und es gibt keinen triftigen Grund, an meinem Projekt zu zweifeln. Noch während ich mir mit derlei Überlegungen die Mittagspause aufhübsche, setzen plötzlich Windstöße ein, die, wenn ich es richtig sehe, nicht mehr von hinten kommen, sondern von der anderen Seite des Flusses. Genau von dort, wohin mein weiterer Weg mich führt.
Wie aus einem Heißluftfön bläst von diesem Moment an der Wind von vorn. Mittags um zwei, als ich wieder in die Pedale trete, befinde ich mich an der Sechzig-Kilometer-Marke – für heute sind noch knapp zweihundert Kilometer zu absolvieren. Ich beginne, mir Gedanken zu machen.
Irgendwo sehe ich schräg vor mir einen einsamen Trekkerfahrer auf einem weitläufigen, dürren Acker seine Kreise ziehen. Hinter ihm steigt eine enorme, gelbe Staubwolke auf, die zu mir herübergeblasen wird. Ich fühle mich wie in einem Backofen voller Staub, Sonne und Gegenwind und so sehr ich mich auch abstrample: es gibt keinen Ausgang. Düstere Aussichten für mich, aber – angesichts des Klimawandels – noch mehr für die nächsten Generationen von Radfahrern. Der Schweiß rinnt mir selbst dann noch aus allen Poren, als ich mich unter einem Pflaumenbaum für ein kurzes Schläfchen ausstrecke. Auch hier herrscht brütende Hitze.
Über Stunden hinweg finde ich kein offenes Café, keinen Krämerladen. In Sougères frage ich einen der wenigen Menschen auf der Straße, ob es hier irgendwo einen Brunnen gäbe. Er verdreht die Augen und zuckt mit den Schultern – hier gäbe es nichts mehr. Dann jedoch folgt die Erleuchtung und er führt mich durch einen Torbogen über einen Innenhof zu einer öffentlichen Toilette. Ich danke ihm wie einem Lebensretter, während er sich dafür entschuldigt, dass er nicht sofort daran gedacht hatte.
Wo immer ich einen Brunnen finde, oder auch nur ein Rinnsal, stelle ich mein Rad daneben, tauche meine Arme ein, tränke meine Mütze und schütte mir Wasser über Kopf und Nacken, um für ein paar Minuten wieder das Gefühl von Normalität zu bekommen. Kein Mensch sitzt bei diesem Wetter auf dem Rad. In Saint-Amand, wo ich nach Stunden das erste Café finde, bekomme ich von den Kunden am Nachbartisch zu hören, dass man mutig sein müsse, um bei diesem Wetter radzufahren. Ich habe den Verdacht, dass sie nicht mutig meinten, sondern bekloppt.
Abends um halb sieben, nach 134 Kilometern, erreiche ich in Neuilly zum ersten Mal die Loire. Kurz zuvor hing ich schwer atmend für Minuten über einem Geländer an irgendeinem Ortsausgang, legte mich ins Gras am Straßenrand und lauschte auf das wilde Rauschen meines Pulses. Die Hitze treibt seltsame Blüten, dachte ich währenddessen, und fand das Ganze nicht sehr vielversprechend.
In Neuilly kann ich mich in einem Lebensmittelgeschäft mit dem Nötigsten für die Nacht eindecken. Ein Rollstuhlfahrer fährt vor dem Laden auf und ab und scherzt mit einer Anwohnerin, sein einziger Wunsch heute wäre ein Schwimmbad. Mit vollen Händen trete ich wieder ins Freie: Wer weiß, ob ich heute Abend noch ein Restaurant finde, das Gebiet entlang meiner Strecke ist weiterhin dünn besiedelt. Als um Viertel vor neun Uhr bei Kilometer 170 zwischen den auslaufenden Hügeln Aubigny-sur-Nère auftaucht, bin ich beruhigt. Ich finde eine Pizzeria, die noch ein kleines Tischchen für mich frei hat.
Wie weit ich heute Nacht wohl noch fahren werde? Die eine Stimme in meinem Kopf beharrt darauf, die Kühle der Nacht unerbittlich auszunutzen, die Gegenrede folgt auf dem Fuße: ich befände mich im Wochenende und habe Besseres verdient als mich bis zum Morgengrauen zu verausgaben. Der Wind würde nachlassen, das gäbe es überdies zu bedenken, sagt die eine, wenn du müde bist, geht ohnehin nicht viel, antwortet die andere Stimme. Ich trinke mein Bier leer, setze die Maske auf, um am Tresen zu bezahlen, und stecke sie wieder in die Trikottasche, um das Tagwerk zu vollenden, egal wann. Erst viel später merke ich, dass ich vergessen habe, die Flaschen aufzufüllen.
Gegen dreiundzwanzig Uhr treffe ich einen einsamen Flaneur im weißen Feinripp-Unterhemd hinter seinem verschlossenen Gartenportal, der mir die Flaschen, die ich ihm durchs Gitter hinhalte, bereitwillig entgegennimmt und und ohne viele Worte gefüllt zurückreicht.
Mein Tagwerk endet früher als erhofft. Kurz nach Mitternacht, als der tiefrote Mond bereits hinter dem Horizont verschwunden ist, finde ich in Millançay ein Rasenstück, das mir Sichtschutz zur Straße hin bietet. Das Wasserrauschen des nahen Flüsschens, so will mir scheinen, werde ich verkraften. Als es abrupt abreißt, weiß ich, ich liege neben einer Kläranlage, und als es von Neuem beginnt, wünschte ich, ich hätte ein wenig länger durchgehalten. Mir bleiben nur noch die Ohrstöpsel als Rettung.