Dienstag, 22. Mai 2007
Bereits vor sieben Uhr bin ich auf den Beinen. Was nicht überrascht, da direkt neben meinem Platz ein Kiesweg verläuft, der nicht nur alle Jogger Thuns anzuziehen scheint, die knirschenden Schrittes den See entlang jagen, sondern auch die Nordic-Walker-Gemeinde, die zusätzlich ihre Stöcke hinter sich herschleift.
Das eisige Lächeln der Gletscher spiegelt sich in meiner Kaffeeschale, die Sonne steigt über dem Wasser auf, zum Frühstück gibt es acht Croissants aus der Tüte - Festtagsstimmung kommt in mir auf, gepaart mit einer Vorfreude auf das, was mich heute erwartet.
Um halb neun bin ich zurück auf der Straße. Die Route steht fest. Hoch nach Zweisimmen, weiter nach Saanen und Gstaad,und immer weiter in südwestlicher Richtung. Die Schweizer N 11 ist nur mäßig befahren - ich habe Schlimmeres befürchtet. Dennoch wähle ich nach einer Weile den ausgeschilderten Radweg - zu verlockend scheint er mir. Und tatsächlich erweist sich das Sträßchen als ein malerisches Asphaltband, das sich die Bahnlinie entlang schlängelt, vorbei an einsamen Höfen. Bei Därstetten ist allerdings Schluss damit, die Nationalstraße hat mich wieder.
Zweisimmen ist kaum mehr als eine Kuppe auf 1000 Meter. Der Blick in die weißen Bergwelten, den sie jedoch frei gibt, lässt einmal mehr Hormone ins Blut einschießen, die eine Ahnung vom vollkommenen Glück aufkommen lassen. Dafür lohnt sich jeder Meter, den ich gestern bei Hitze und Gegenwind zurückgelegt habe. Man könnte hier oben verharren bis man sich satt gesehen hat, wäre nicht diese Rastlosigkeit, die einen weiterdrängt. Ist es eine Sucht? Oder die Angst, diese Einheit von Körper, Rad und Landschaft zu verlieren?
Ich passiere Saanen und Gstaad, versorge mich in einem der zahlreichen kleinen Lebenmittelläden mit dem Nötigsten für die Mittagsrast. Eine Ungeduld erfasst mich: der Col du Pillon wird mein erster Pass über 1500 Meter sein auf dieser Tour. Es geht alles so einfach, das Glück ist so berechenbar, wenn die Sonne scheint und der Körper willig ist. Am Col du Pillon steht ein österreichischer Reisebus, der mich wenig vorher überholt hat. Die Reisenden haben sich auf der Terrasse des Gipfelrestaurants verteilt und warten auf die Speisung. Goldfarben glänzen ihre Biergläser im Mittagslicht. Auch eine Variante, die Berge zu erleben. Ich nehme mit einer Banane und einem Müsliriegel vorlieb - es ist gerade mal zwölf Uhr, nach einer Pause steht mir der Sinn noch nicht.
Eine kurze Abfahrt nach Les Diablerets, am Ortsausgang noch einen Schokoriegel, der in der Sonne zu verschmachten droht. Flirrende Mittagshitze, ich bin nahezu das einzige Lebewesen auf dem Weg zum Col de la Croix. Ein Rückenwind trägt mich sanft nach oben, näher heran an diese weißgetüchten Giganten. Ein absurder Gedanke bemächtigt sich meiner: dies ist mein Berg, dies ist mein Berg... Ober auf dem Gipfel werden die Besitzverhältnisse wieder klar gestellt. Ein Trupp Bauarbeiter mit Bagger, Presslufthämmern und Lastwagen hat die Passhöhe zum Kriegsgebiet erklärt und wütet mit entsprechendem Getöse. Was soll ich mich aufregen? Wie alle Soldaten haben sie keine Wahl und der Liebe Gott, wenn's ihn gibt, wird sie dafür sowieso in den Tiefen der Hölle schmoren lassen. Ernüchtert passiere ich das Gipfelschild (1778 m), suche mir im Jenseits ein ruhiges Plätzchen für die längst überfällige Pause.
Die Abfahrt nach Bex im Rhônetal ist ein echter Hammer. Serpentine um Serpentine zieht mich die Schwerkraft erbarmungslos nach unten. Wohl 1400 Höhenmeter, auf 14 Kilometer verteilt, sind so in wenigen Minuten vernichtet. Meine Finger kleben auf den Bremsen. Noch ehe ich im Tal recht zur Besinnung komme, fängt mich ein Rückenwind ab und treibt mich im Höllentempo nach Martigny. Was bin ich froh, dass ich nicht andersherum fahren musste!
In Martigny wartet der nächste Anstieg auf mich, der Col de la Forclaz: 13 Kilometer gleichmäßiger Anstieg zwischen sechs und sieben Prozent ohne auch nur einen winzigen Moment des Ausruhens. Aber steht es mir an zu klagen? Habe ich nicht selbst heute morgen alle Einwände dagegen vom Tisch gefegt? So schüttle ich, wie ein behäbiges Rind Fliegen von sich schüttelt, jeden mürrischen Gedanken von mir und heiße meine Beine, wacker weiterzutreten.
Kurz nach fünf ist auch diese Hürde genommen. Ober verweile ich ein paar Minuten. Kein berauschendes Gipfelerlebnis, hier auf 1527 Metern: ein in die Jahre gekommener Souvenirladen, ein Restaurant, ein Parkplatz. Dafür aber weit und breit kein Bauarbeiter und überdies ein erster Blick auf die Mont-Blanc-Kette.
Was folgt, ist eine geschwungene Abfahrt und 400 Meter tiefer die Grenze nach Frankreich. In einer dieser Grenzbuden investiere ich bis auf meinen letzten Rappen in zwei Tafeln Schweizer Schokolade. Für Notzeiten. Die N 508 ist, wie viele Nationalstraßen in Frankreich, wie ausgestorben. Eine waldgesäumte Straße entlang eine kleinen Flüsschens, L'eau Noire, - ein Idyll. Noch einmal geht es auf 1460 Meter hoch, zum Col des Montets, mir ist das völlig gleichgültig. Ein schwer zu beschreibendes, angenehmes Gefühl.
Oben: kurzes Innehalten. Der Mont-Blanc-Gletscher scheint zum Greifen nahe. Ein Zauber liegt über dieser Abendlandschaft. Eines fernen Tages werde ich hierher zurückkommen und im Angesicht des Massivs einfach nur verharren, bis die Sonne untergegangen ist und die Schneefelder das Licht der Sterne widerspiegeln.
Chamonix ist eine Weltstadt. Nicht wegen ihrer Größe, sondern weil ihre Lage unterhalb des Dachs der Alpen sie in aller Welt berühmt gemacht hat. Das Städtchen selbst ist unscheinbar in meinen Augen. Es wäre an der Zeit, einen Campingplatz aufzusuchen, wollte ich meine Vorgabe umsetzen, mir spätestens um sieben eine feste Bleibe zu suchen. Na ja, denke ich mir, vielleicht noch die 20 Kilometer talwärts nach Saint-Gervais, allerhöchstens jedoch bis Mégève, 35 Kilometer von hier... Wieder schwingt dieser Teufel, der mich weiter und weiter treibt, seine Peitsche.
Um seine Bedeutung zu unterstreichen, hat sich Chamonix einen Tunnel ins Aosta-Tal gegönnt. Dieser Tunnel hat zur Folge, dass aus der beschaulichen N 205, die mich nach Chamonix gebracht hat, plötzlich eine vierspurige Autobahn wird. Die Straßenplaner mögen helle Köpfe gewesen sein, eines haben sie jedoch bei ihrer Planung vergessen: dass es Verkehrsteilnehmer gibt, die nicht mit dem Auto unterwegs sind. Für diese Verkehrsteilnehmer bleibt leider nur ein jämmerliches Sträßchen, das sich - mangelhaft beschildert zudem - über die Bergflanken links und rechts der Autobahn windet, hoch und runter, kreuz und quer. Ich bin sprachlos, ich kann es einfach nicht fassen, dass so etwas möglich ist. Aber es ist möglich... In Gedanken formuliere ich wenig höfliche Protestschreiben an den Bürgermeister von Chamonix und auch an den Verkehrsminister in Paris. Wie kann ein französiches Ingenieursgehirn mir so etwas antun, mir, der ich Frankreichs Straßen über alles verehre? Waren da etwa amerikanische Straßenbauer im Spiel?
Statt kalkulierten 40 Minuten hat mich diese Angelegenheit bald eineinhalb Stunden gekostet. Ich höre im Hintergrund den Teufel mit seiner Zunge schnalzen. Und sein Schnalzen wird lauter und freudiger, je mehr ich mich Saint-Gervais nähere. Mit bösen Höhenmetern garniert er mir das Finale. Nicht genug, dass es zum Ort drei steile Kilomter bergan geht, der Campingplatz selbst liegt noch zwei Kilometer außerhalb, ansteigend versteht sich.
Endlich angekommen, breite ich mein Gepäck unmotiviert auf dem erstbesten Platz der Wiese aus und will gerade mit dem Zeltaufbau beginnen, als die junge Besitzerin dahereilt, mich freundlich begrüßt und mir dringend rät, einen Platz abseits der nahen Straße zu wählen. Sie bietet mir an, mein ganzes Gerümpel auf ihr Elektrofahrzeug zu laden und zum hinteren Teil zu fahren. Ich willige ein und bin am Ende sehr froh über ihren Dienst. Ich habe von meinem neuen Standort aus einen Logenplatz mit direktem Blick auf den Dôme de Miage, der auch dem Campingplatz seinen Namen gegeben hat.
Eine halbe Stunde später, nach der Dusche und der Küchenarbeit, stoße ich mit dem Teufel auf ihr Wohl an. Ein angemessener Ausklang. Trotz meiner Müdigkeit bleibe ich bis halb zwölf am Tisch sitzen. Der Teufel hat sich bald aus dem Staub gemacht, nachdem er mir anerkennend auf die Schulter geklopft hat. Zurück bleibt eine Reinheit, wie sie Berglandschaften eigen ist.
Strecke: |
213 km |
Zeit: |
10:17 h |
Schnitt: |
20,7 km/h |
Höhendifferenz: |
3885 m |