Back to the roots

Donnerstag, 10. Juni 2004    Freiburg - Kempten


Das Erste, was mir an diesem Donnerstag ins Auge fällt, sind die Blumenteppiche im Ort Kirchzarten - nicht für mich, sondern weil heute Fronleichnam ist. Fast ausgestorbene Straßen an diesem Feiertagsmorgen, bereits kurz nach neun Uhr lässt die Wärme die Blütenpracht welken.

Auf meinem Programm stehen die Alpenpässe im Grenzgebiet von Österreich, Italien und der Ostschweiz. Von Freiburg aus gesehen liegt diese Region nicht gerade vor der Haustür und es braucht eine oder zwei Überführungsetappen, ehe die Luft dünn genug wird, um dem Radfahrer die ersehnten Schauer einzujagen. Aus diesem Grunde habe ich mich für die Light-Version des Radreisens entschieden: Rennrad mit großer Hecktasche für ein Minimum an Kleidung, Gymnastikschlappen, Zahnbürste und – für alle Fälle – einen Biwaksack. Die Regenjacke steckt in einem kleinen Lenkerbeutel. Darüber hinaus mit an Bord: Werkzeug, Ersatzschlauch und Sonnenmilch. Nicht zu vergessen: das liebe Geld. Das wär’s, im Großen und Ganzen.

Blick zurück von der ThurnerauffahrtDermaßen ausgestattet, bewege ich mich auf das erste und einzig nennenswerte Hindernis dieses Tages zu, den Thurner, mit seiner Höhe von 1090 m der Übergang vom Rheintal zum Donautal. Die luftigen Schleierwölkchen am Himmel nehmen der Sonne nichts von ihrer Intensität, und bereits am Fuß des Berges wähle ich das ärmellose Trikot, während ich das Kurzarmtrikot in meine Tasche stopfe. Auch wenn es nicht viel ist: das Gepäck, wohl gut fünf Kilo schwer, bleibt spürbar. Die ersten Schweißtropfen perlen aufs Oberrohr.

Irgendwo im Anstieg fällt mein Blick auf ein Feldkreuz in der Sonne. Es ist vollbracht, steht darunter in goldenen Lettern. Ich fange an zu grübeln, ob Frohleichnam wirklich etwas mit Leichen zu tun hat, und hoffe, wie jedes Mal, wenn ich auf Tour gehe, dass alles gut geht. Die Beine können noch so gut trainiert sein: auf unseren zarten Maschinen bleiben wir verletzlich.

Die Abfahrt ins Urachtal wird von leichtem Rückenwind beschleunigt. Hammereisenbach zieht vorbei, es folgt das Bregtal. Ein blinkender Flusslauf, der sich bald mit der Brigach zum zweitlängsten Strom Europas vereinigen wird. Anhaltender Westwind schiebt mich hoch nach Donaueschingen. Im Fürstenpark beginnt der Donauradweg über Passau und Wien nach Budapest. Ausflügler und Radreisende mit fülligen Gepäcktaschen säumen den Zickzack-Kurs entlang der mäandrierenden Donau, es ist mir unangenehm, mir den Weg Richtung Westen freizuklingeln. Vor Gutmadingen verlasse ich den Radweg in Richtung Bodensee.

Mit dem nächsten Anstieg von Hausen zum Hegaublick endet die bisherige sonntägliche Idylle. Die Anhöhe dient den Motorradfahrern als Pilgerstätte, und in Horden schießen sie auf der B 31, die oft nur einen Steinwurf von der A 81 entfernt verläuft, an mir vorbei. Der Parkplatz oben ist zu klein, um die ganzen Fahrzeuge zu fassen. Wer sich hier ohne Lederkluft bewegt, fällt auf. Ich erhasche einen kurzen Blick auf den Bodensee und auf den Tacho – 75 km, 2:50h – und genieße die Abfahrt nach Engen. Ein Auto bietet mir auf der Ortsdurchfahrt Windschatten bei knapp 50 km/h. Als ich abreißen lasse, fährt ein Motorrad auf meine Höhe, ein schnauzbärtiger Kauz blinzelt aus seinem Helm hervor und bemerkt verschmitzt in breitestem Schwäbisch: „Hier isch ab’r Zone 30!" Ich kann nicht anders als zurückzugrinsen.

am BodenseeAuf den letzten 25 Kilometern zum Bodensee klettert das Thermometer endgültig über dreißig Grad, aber es ist angenehm zu fahren, ruhige Straßen über Aach und Orsingen, bis ich bei Ludwigshafen den Bodensee aus nächster Nähevor mir habe. Die Uferstraße ist gepflastert mit Autos, Parkplatzsuchende kämpfen erbittert um die Positionen, Sonnenhungrige tummeln sich kreischend an den Stränden. Ich spüre, wie das Ozon meine Lungen ausbrennt.

Der Radweg ist hier an sonnigen Wochenenden berüchtigt für den Ansturm von Radfahrern aller Couleur, die meisten unterwegs auf behäbigen Stadträdern mit Körbchen, Hütchen oder Hündchen. Ich bremse mir die Felgen heiß. Trotz allem: der Bodensee hat Flair. Das Wasser glitzert im Gegenlicht, die Dampfer von Meersburg und Friedrichshafen bahnen sich ihren Weg durch das Gewässer, jenseits schieben sich die Berge in den blauen Himmel.

Kurz vor Lindau, in Nonnenhorn, stoße ich nordöstlich in die hügelige Voralpenlandschaft vor. In den kurzen, heftigen Anstiegen spüre ich die Kilometer in den Beinen – und den Hunger. Zwei Bananen und zwei Brötchen habe ich bisher vertilgt - mein Reiseproviant von zuhause - plus einem Schokoriegel. Nicht gerade üppig für 200 Kilometer. In Wangen im Allgäu habe ich die erste wirkliche Rast geplant: ein Kurzbesuch bei einem Freund aus Kindheitstagen. Als ich durchs Stadttor fahre, das den Beginn der malerischen, mit Natursteinen gepflasterten Fußgängerzone markiert, fallen mir nicht nur die Bilder der Deutschlandtour ein, die hier vor einer Woche Station machte, sondern mehr noch die Bilder aus meiner Schulzeit. Hier bin ich groß geworden.

Wangen im AllgäuIch passiere den Stadtbrunnen, heute autofrei und noch mehr als früher ein geeigneter Ort, um gemeinsam gegen Adoleszenzkrisen anzutrinken – bei wohl gleichbleibend ernüchternden Resultaten. Wo damals Autos parkten, laden nun Straßencafés zum Verweilen ein. Vergeblich suche ich die vielen Gesichter nach etwaigen Bekannten ab, während ich im Schritttempo übers Pflaster rolle.

Mit der Kraft von original Allgäuer Emmentaler und Instruktionen für die Weiterfahrt nehme ich eine knappe Stunde später das letzte Fünftel bis Kempten in Angriff. Ich bemerke, wie wenig sich die landschaftlichen Details in meinem Gedächtnis gehalten haben. Das Allgäu ist bezaubernd. Kleine, gewundene Straßen, Wälder, urwüchsige Weiler im Abendlicht. Ich sauge alles auf wie ein Schwamm, lasse längst vergangene Begebenheiten Revue passieren, versuche den Gang der Dinge nachzuzeichnen. Längst verschüttet Geglaubtes wird wach.das Allgäu

Vieles hat sich geändert mit den Jahren. Auch die Straßenführung. Und so verpasse ich hinter der bayrischen Grenze ums Haar die richtige Abzweigung. Bald darauf, nach der letzten Steigung hoch nach Buchenberg, nehme ich die Straße rechts Richtung Waltenhofen. Von hier kann ich rollen lassen, bis zu meinem Ziel: das Heim meiner Verwandten – die männliche Hälfte davon ist, als Radrennfahrer der ersten Stunde, nicht ganz schuldlos an meinem Werdegang. Diese Rechnung habe ich allerdings ohne das Tiefbauamt Kempten gemacht. Abrupt endet das Sträßchen vor einem tiefen, langgezogenen Krater, der einst das Autobahnkreuz Waltenhofen mit der B 19 nach Immenstadt verbinden wird. Höchstens Tausend Meter Luftlinie trennen mich von meinem Ziel. Irgendwo kämpfe ich mich den Abhang hinunter, darauf vertrauend, dass ich auf der anderen Seite der Baustelle wieder hochkomme. Meine Radschuhe sehen danach aus wie Wanderstiefel und wiegen wohl 200 Gramm mehr...

Wenn nach einem solchen Tag der Bauch spannt von einer Riesenportion Spaghetti und und der Kopf leicht wird von bayrischem Weizenbier und man übers Radfahren reden kann, bis einem die Augen zufallen: da lösen sich 240 Kilometer mehr und mehr in Wohlgefallen auf...

 

Strecke

244 km

Fahrzeit

9:22 h

Schnitt

26,0 km/h

Höhenmeter

1745

 

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