ARA Breisgau: 300 Kilometer Freiburg, 26. April 2014, 8 Uhr
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Wenn man einen Tag vor dem Brevet den Wetterbericht mit apathischer Gleichgültigkeit studiert und gleich schon wieder alle Einzelheiten vergisst, muss etwas Schlimmes passiert sein. Etwa, dass man sein gesamtes Vermögen an der Börse verspielt hat. Oder, dass man schon seit einer Woche nicht mehr auf dem Rad gesessen ist. Das sind Tiefpunkte im Leben, durch die man durch muss. Die Rettung aus solchen Lebenskrisen kommt dann meist unverhofft. Bei musisch anfälligen Personen wie mir reicht - im Glücksfall - in plötzlicher Eingebung ein Song, der beispielsweise in unnachahmlicher Weise mit der gegenwärtigen Wetterprognose harmoniert: Come Rain Or Come Shine. Es handelt sich hier um ein recht getragenes Lied, das man zuallererst natürlich abspielt, wenn man seiner Frau gegenüber wieder einmal klarstellen möchte, mit wem sie eigentlich zusammen ist: I'm gonna love you like nobody's loved you... Das ist ziemlich romantisch und muss auch nicht übersetzt werden.
Weil darin auch von hohen Bergen und tiefen Flüssen die Rede ist, passt es gleichzeitig ganz famos zur Kulisse, die uns beim heutigen Dreihundert-Kilometer-Brevet erwartet. Und dann dieser Titel, der sich wie Balsam auf die geschundene Randonneurseele legt, die heute einmal mehr unter der meteorologischen Instabilität zu leiden hat: Come Rain Or Come Shine - unsere unerschütterliche Liebe zur Sache wird uns stark genug machen, allen Herausforderungen zu trotzen, ob Starkregen oder Gluthitze.
Letztere würde uns heute weniger zu schaffen machen - das ist absehbar, als wir uns in einer Dreiergruppe in Richtung Münstertal bewegen. Wie herrlich ist es doch, mit dem Rad wieder in ferne Landschaften eintauchen zu können! Und so ebenmäßig wie diese zauberhafte Melodie, die mein kränkelndes Gemüt beschwichtigt, fließen wir zu dritt dahin. Und fließen quasi bergan, hoch nach Münsterhalden. Dazu fließt noch etwas Nieselregen von oben, was eine ganz eigentümliche Mischung ergibt, die ich aus nicht nachvollziehbaren Gründen am liebsten mit dem etwas altbackenen Ruf Heissa! kommentieren möchte. Heissa! Um unsere Bergmeditation nicht zur stören, halte ich jedoch meinen Mund und lausche auf die Klangwelt in mir und um mich herum: Bachrauschen und Vogelgezwischter. Und das Knarzen meiner Pedale. Wir leben nun mal nicht in einer idealen Welt.
Bis wir Bad Säckingen erreicht haben, ist der Asphalt längst wieder trocken. Die Stadt ist bevölkert von merkwürdigen Menschen in mittelalterlichen Gewändern und viel schaulustigem Volk auf den Straßen. Mit unseren bunten Trikots fallen wir aus dem Rahmen. Jedoch bleiben die Menschen trotz ihres teils martialischen Äußeren sittsam und in dem Schnellrestaurant, wo wir um einen flotten Stempel für unsere Brevetkarte bitten, gibt man sich alle Mühe, einen solchen herbeizuschaffen, auch wenn dies seine Zeit dauert. Wir haben reichlich Gelegenheit, das Treiben in den Gassen zu studieren.
Entgegen aller vorangegangenen Ängste und Tiefstapleleien erweist sich unser Dreierteam als recht homogen und auch der Himmel über dem Jura, das sich jenseits des Rheins aufbäumt, gibt Grund zur Gelassenheit. In besonderen Momenten zeigt sich sogar die Sonne. Man könnte es fast Verzückung nennen, was von uns in dem Maße Besitz ergreift, wie wir uns den schroffen Gebirgszügen nähern. High as a mountain and deep as a river... Mit seinen wolkenverhangenen Zacken erweckt das Schweizer Jura den Eindruck einer bizarren Märchenlandschaft. Wir rufen Oh! und Ah!, stemmen uns in die Pedale und reißen an den Bremsen. Happy together, unhappy together - won't it be fine? Heissa! An ausgewählten Stellen verleiht das Wummern in den Schläfen der gefälligen Melodie einen Hauch von Heavy Metal, dazu tropft der Schweiß im Takt der Beats. Der Randonneur, vertraut mit den Extremen, ist in seinem Element.
Nach über fünf Stunden Fahrt wird es endlich Zeit für die zweite Kontrolle, das Bölchenhaus unterhalb des Chilchzimmersattels. Wir machen uns umgehend am Nudelbuffet zu schaffen. Obwohl nur gut einhundert Kilometer hinter uns liegen, passt erstaunlich viel in mich hinein.
Der Weg nach Moutier ist lang und zäh, ein faux plat, wo der Wind dem Radfahrer stets ungünstig ins Gesicht bläst. Das gehört zu den Prüfungen, die ein Brevet erst salonfähig machen. Dazu zählt auch der Anstieg nach Souboz. Dort holt man sich den Stempel der legendären Tankstelle Klötzli, an der jeder, der dieses unscheinbare Etablissement nicht kennt, in der Abfahrt vorbeirast. Für gewöhnlich geschieht dies nur einmal.
Mit diesem Nachweis in der Tasche beginnt wieder die Sonnenseite des Randonneursdaseins - die Talfahrt nach Delémont. Selbst bei grauem Himmel ist sie purer Genuss. Das Herz jubelt wieder und in den Gorges du Pichoux ist man an dem Punkt angelangt, wo man dem Leben auf zwei Rädern ewige Treue schwört, in guten wie in schlechten Zeiten.
Das Blatt wendet sich erst wieder jenseits der Schweizer Grenze, im Sundgau, wo sich im Westen nach und nach dicke, tiefschwarze Wolkenbänke ineinanderschieben. Die Luft ist elektrisch geladen. Der Radfahrer, obwohl er ahnt, dass es ihn erwischen wird, legt die Kette weiter nach rechts und unternimmt, tief über den Lenker gebeugt, den ebenso beherzten wie lächerlichen Versuch, dem Wind, den die Gewitterfront vor sich herschiebt, davonzufahren und dem Unwetter zu entgehen. Vor dem Schwarzwald gehen die ersten Blitze nieder. Dieser fiebrige Zustand hält an, bis wir den Rhein erreichen. Noch haben wir nicht mehr als ein paar Tropfen abbekommen, und als wir eine Stunde später bei einbrechender Dunkelheit in die letzte Kontrolle, ein Rasthof in Bremgarten, einfahren, steigt die Zuversicht, das Brevet trocken zu überstehen.
Am Ende holt uns der Regen doch noch ein. Aber so, dass ich keinen Grund sehe, von meinem Treueschwur abzurücken. Die Füße sind nass geworden. Deswegen kündigt man keine Beziehung. Erst kurz nachdem wir beim ersten Bier sitzen, geht der Schlamassel los. Die Rückkehrer kommen fortan ins Ziel wie nasse Lappen, die erst ausgewrungen werden müssten und je mehr sich die Ankunft hinauszögert, desto finsterer werden die Minen. Manche kommen überhaupt nicht mehr an. Mentale Tiefschläge, Kränkungen. Man kennt das. Und dann, natürlich, wieder mal: Beziehungskrise. Möchte man diesem harten Leben auf der Straße wirklich die Treue halten? Hier braucht es eine starke Therapiemaßnahme - etwa der Aufenthalt in einer Kneipe, wo neben ein paar toughen Mädels noch richtige Männer sitzen. Geruch von Schweiß liegt in der Luft. Man bestellt sich ein namhaftes Starkbier und legt sich Rechenschaft darüber ab, was einem diese Welt bedeutet. Man legt eine Positivliste an - alternativ eine Strichliste auf dem Bierdeckel. Nun hakt man seine Daumen im Hosenbund ein, tritt mit breiten Schritten auf den Wirt zu und bittet ihn freundlich aber bestimmt, einen Titel von Willie Nelson einzuschieben: Come Rain Or Come Shine. Danach, ich schwör's, wird alles wieder gut.
Strecke: |
310 km |
Höhendifferenz: |
3610 hm |
Fahrzeit: |
12:03 |
Schnitt: |
25,7 km/h |
Gesamtzeit |
13:17 h |