Carcès, 4.September 2013, 8 Uhr
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In den letzen lauen Sommertagen Anfang September nehmen wir den Nachtzug und rauschen von Mulhouse durch die Dunkelheit nach Süden. Zurück lassen wir, jenseits des Rheins, ein Land im Wahlkampf, und die politischen Leistungsträger auf den Wahlplakaten, die um unsere Herzen und Stimmen werben. Ich neige zur Ansicht, dass man diese Wahlwerbung nicht als billige Maßnahme zur Volksbelustigung missverstehen, sondern ihre tiefe, geradezu anrührende Botschaft beherzigen sollte, dass jeder seinen Beitrag zu unserem krisengeschüttelten Gemeinwesen ebenso leisten möge, wie diese mütterlichen und väterlichen Vorbilder: Tag und Nacht, unermüdlich. Ganz besonders natürlich am Wahlsonntag.
Sollten gerade wir Randonneure uns nicht davor hüten, zu glauben, nur weil wir nun im fernen Süden zu unserem privaten Vergnügen ein paar Tage Radfahren gehen, wären wir fein raus? Sind nicht wir diejenigen, die mit unserer Kultur des Durchhaltens mehr als alle anderen ein starkes Zeichen setzen könnten, um den dekadenten Tendenzen unserer Spaßgesellschaft entgegenzuwirken? Wenn wir es schaffen, fünfundsiebzig Stunden, allenfalls von kurzen Pausen unterbrochen, auf dem Rad zu bleiben, warum dann nicht auch ein Schweißer am Fließband oder eine Pflegekraft am Patientenbett, zumal dort Colaautomat oder Kaffeemaschine in steter Reichweite sind? Das sind zwar keine verlockenden Aussichten, aber wer sonst sollte die Milliardenschulden der systemrelevanten Kreditinstitute jemals wieder begleichen?
Zugegebenermaßen ist dieses Hochgefühl, das mich übermannt, als wir im Café unweit des Bahnhofes von Les Arcs beim ersten Milchkaffee des Tages sitzen, zunächst nicht so sehr der Aussicht geschuldet, durch unsere Taten unser Land wieder moralisch aufzurichten, sondern dem schlichten Umstand, dass es morgen auf die Strecke des Mille du Sud geht: 1000 Kilometer durch die Provence mit aktuell 18 000 Höhenmetern. Die anstrengende, durchwachte Nacht auf der Pritsche des vollen Sechserabteils, das Schienenrattern und das Bedauern, die rotschimmernden Calanques bei Marseille verpasst zu haben, da ich gegen sechs Uhr früh endlich weggedöst bin, ist vergessen.
Eine solche Freude ist von erstaunlicher Dauer und hält auch am Mittag noch an, als wir uns im dreißig Kilometer entfernten Carcès im Café Central zum Plauderstündchen mit den vielen über die Jahre allmählich vertrauten Gleichgesinnten aus der halben Welt treffen. Man stärkt sich mit Espresso, Pastis, Rosé oder Bier und versichert sich seines Willens, den Mille du Sud in aller Ernsthaftigkeit anzugehen, und wünscht, dass diese Stunden des milden Dahingleitens im Vorfeld des Sturmes niemals vergehen würden. Über allem schwebt wunderbar - wie die Urkraft der provençalischen Sonne - die große Herausforderung.
Wer um die Sehnsucht unserer Gesellschaft nach Helden und Vorbildern weiß, wird sich als Randonneur gerne mit dem Gedanken anfreunden, dass unser Start Tags darauf um acht Uhr nicht eine Ansammlung nutzloser Radfreaks ist, sondern der große Auftritt vorbildhafter Performer. All die Vertreter von Unzeitgemäßem aus unseren Reihen – sei's Stahlrahmen mit Rahmenschalthebeln, Chromschutzbleche, Käfigpedale oder handgestrickte Wollsocken – schaffen gleichsam den Verweis auf die heroischen Zeiten. Allein der Extremist aus der Berliner Randonneurszene, der im weißen Tutu, wie so ein Ballettröckchen genannt wird, am Start steht, sorgt im an diesem Morgen für Verwirrung. Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit sind angebracht.
Das Fahren selbst ist unter der Sonne des Südens zunächst noch ein angenehm Geschmeidiges: die Straßen sind eingewoben in hügelige Landschaften, deren Farbenspiel zwischen dem Blau des Himmels, dem satten Grün der heranreifenden Weinreben und dem spätsommerlichen Gelb der Gräser wechselt. Ein Landschaftsfilmer hätte einfaches Spiel. Im Kameraschwenk streifte er unversehens Gesichter, deren Ausdruck mir recht unbekümmert erscheinen will. Sind dies die Helden, die mit ihrem Durchhaltevermögen dem Niedergang unseres Gemeinwesens gegensteuern? Und zu alledem noch das schmetterlingsgleiche Flattern des Tutu...
Wir streifen verblühte Lavendelfelder und den weit im Westen aufblitzenden Mont Ventoux auf dem Weg zur ersten offizielle Kontrolle in Montbrun-les-Bains bei Kilometer 157. Anstandslos lässt sich die Bedienung im Café des Tilleuls zum Fotoshooting mit dem Berliner Extremisten im Röckchen überrumpeln. Man kann es drehen und wenden wie man will: solange die Berliner Ballerina mitmischt, kippt alles ins Lächerliche und jeder Versuch, uns den Anschein echter Performer zu verleihen, ist zum Scheitern verurteilt.
Milde Abenddämmerung setzt ein, als wir den zauberhaften südlichen Teil des Departements Drôme hinter uns gebracht haben und uns in Crest zu ein paar italienischen Randonneuren gesellen, die sich bereits auf der Terrasse einer Pizzeria niedergelassen haben. Der Geruch von Schweiß wabert über den anwesenden Gästen. Die Servicekraft, die uns Getränke und Abendmahl serviert, rümpft angesichts dieses Umstands die Nase und scheint sich bei den anderen Gästen fast zu entschuldigen für das schweißtriefende Pack, das ihr Etablissement heimgesucht hat. Erst durch üppiges Trinkgeld gelingt es uns, sie für uns einzunehmen. Dann aber füllt sie meine Trinkflaschen mit gekühltem Wasser aus der Zapfanlage.
In Pont-en-Royans, der dritten Kontrolle, treffen wir am späten Abend auf einer Caféterrasse in der Hauptstraße erneut auf unseren Mann im Tutu. Und wieder erschleicht er sich in der allgemeinen Ausgelassenheit ein Foto, Arm in Arm mit der sympathischen Bardame eines sichtlich beliebten Gastronomiebetriebes, wo uns neben dem dritten Stempel Getränke aller Art gereicht werden. Die erfolgte Bespaßung der ortsansässigen Kunden kann einmal mehr nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesellschaftliche Vorbildfunktion unserer bis dato vorzuweisenden Leistungen noch nicht greift.
Nach einem gemeinsamen Aufbruch verliert sich die Rotte im mondlosen Schwarz, das sich übers Vercors spannt. Die Gespräche versiegen, als es nun bergwärts geht, entlang der Bourne-Schlucht und weiter nach Saint-Julien-en-Vercors. Für eine gute halbe Stunde entziehe ich mich hier jeglicher Verpflichtung und genieße den unerhörten Komfort einer Parkbank.
Noch vor dem Morgengrauen liegt Grenoble als Lichtermeer zu unseren Füßen. Abertausende von Menschen - Schweißer, Krankenschwestern, Mütter und Väter - schlummern dort unten in ihren warmen Betten, froh über die letzten Stunden Schlaf dieser Nacht. Aus irgendeinem Grund packt mich ein tiefes Mitgefühl für sie.
Es trifft sich gut, dass mein britischer Weggefährte einer möglichen gesellschaftlichen Vorbildfunktion auch nur mit gedrosseltem Eifer begegnet, und so endet die Fahrt in die Niederung der Großstadt für meinen Begleiter und mich in einer gut einstündigen Schlafpause im Automatenvorraum einer Bank. Als wir kurz vor sechs Uhr wieder auf die Beine kommen, lehnen die vier Räder unserer italienischen Freunde ein paar Gebäude weiter vor dem nächsten Geldinstitut. Auch sie scheinen hinter ihrem Treiben keinen gesellschaftlichen Auftrag wahrzunehmen oder gehen ihn offensichtlich recht lässig an, obwohl es gerade in ihrem Land mit der öffentlichen Moral auch nicht zum Besten steht. Im gegenüberliegenden Café wird eben die Kaffeemaschine angeworfen und wir werden schon wieder schwach. Der zweite Tag beginnt stockend.
Valbonnais besitzt einen kleinen örtlichen Supermarkt mit einem Ausschank, wo wir Stunden darauf zu zweit ein weiteres Frühstück einlegen, während sich der Abstand zu den seriösen Kollegen mehr und mehr vergrößert. Dann nehmen wir den Weg nach Les Angelas im Süden. Die Straße, die nun folgt, ist ein mehrere Kilometer langes knochenhartes Steilstück hoch auf den Col de Parquetout und gibt Gelegenheit zu zeigen, was tatsächlich in uns steckt. Ich schaffe es nach oben ohne abzusteigen und will mir hoch anrechnen, an diesem Pass ein deutliches Zeichen gesetzt zu haben, wozu der Mensch fähig ist, wenn er nur will. Fürs Erste sollte das reichen und ich gönne mir eine ordentliche Pause in der Sonne, verhätschelt von dem französischen Paar, das auf der Passhöhe eine Geheimkontrolle am Laufen hält.
Am Col de Festre lasse ich meinen britischen Kollegen in der Appetit anregenden Höhenluft beim Mittagessen zurück, um fortan monologisierend die zweite Hälfte der Strecke unter die Räder zu nehmen, bergauf, bergab, fortwährend und endlos. Vorbei am Lac de Serre-Ponçon, worin sich der an den gezackten Bergspitzen auslaufende Himmel spiegelt.
Guillestre erreiche ich am Abend. Schweren Herzens verzichte ich auf ein gemeinsames Essen mit den dort anwesenden italienischen Frohnaturen. Aber mein Magen will nicht so recht. In meinen Ohren klingt ihr Lachen noch nach, als ich mich im letzten Tageslicht ohne große Umschweife in die Passauffahrt des Col du Var hoch auf 2109 Meter begebe. Nachdem ich um 22.43 Uhr den Gipfel erreicht habe, komme ich nach reiflichem Monologisieren zu dem Schluss, mich weiter unten für ein Schläfchen abzulegen, statt um Mitternacht von Barcelonnette aus in den noch höheren Col de la Cayolle hineinzufahren. Kann man mir diesen Moment der Schwäche verdenken? Ist es nicht von Zeit zu Zeit geboten, sich in seiner Performance zu mäßigen, um andere Gesellschaftsmitglieder nicht mehr als nötig unter Druck zu setzen?
Die Bank, die ich mir in einer Bushaltestelle ausgesucht habe, erweist sich als so schmal, dass ich beim ersten Versuch, mich umzudrehen, zu Boden falle und mein Rad mit umreiße. Vorsichtiger geworden, nehme ich im Dämmerzustand wahr, wie Scharen von Randonneuren an mir vorüberziehen, während ich warm eingepackt auf 1250 Metern Höhe meine Zeitverschwendung geradezu genieße. Dem moralischen Niedergang scheint Tür und Tor geöffnet.
Ein neuer paradiesischer Morgen bricht zwischen den schroffen Felswänden an, die ich entlang der Auffahrt zum Col de Cayolle erahne. In den wenigen Häusern, die die Passstraße säumen, gehen nach und nach die Lichter an und ich stelle mir vor, wie heißes Kaffeegebräu auf wuchtigen hölzernen Küchentischen dampft, während ich in der schwarzen Nacht geistergleich vorbeiziehe. Als ich nach über zweistündiger Auffahrt die Passhöhe auf 2326 Metern erreiche, erstrahlt die westliche Felsflanke im ersten Morgenlicht. Die Augen werden glasig und meine Performance erstirbt. In der vollkommenen Stille gibt es nur noch reinen Atem in reiner Bergluft, die Beine sind zum willfährigen Anhängsel mutiert. Es gibt besonders in dünner Höhenluft wirklich komische Zustände, wo man sich mit einem Mal ein Herz fasst und glaubt, auf alle Pflichten pfeifen zu können. Wo man in seiner ganzen grandiosen Mittelmäßigkeit seine Trinkflasche hebt und aufs Leben trinkt. Wo man als geistergleich Fahrender bereitwillig akzeptiert, dass es nichts Schöneres gibt, als geistergleich seinem Weg zu folgen. Mein Hintern schmerzt, ebenso meine Füße. Es ist ein geeigneter Augenblick, mir über mein Wirken Rechenschaft abzulegen. Die Sirenengesänge, die, aus den Tiefen kommend, mir zuflüstern, mein Glück in dieser Welt als nutzloser Randonneur zu suchen, wirken betörend auf mich wie eine Überdosis Schlafentzug. Die moralische Erneuerung dieses Landes würde ohne mich stattfinden müssen. Nach dieser schönen Erkenntnis ziehe ich Jacke und lange Handschuhe über und begebe mich beschwingt in die Abfahrt.
Zustände wie diese, satte dreieinhalb Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht und eine weitere verbummelte Pause bei geschäumtem Kaffeegetränk in Guillaume vermengen sich zu einem Cocktail, der mir die nötige Leichtigkeit beschert, um die Berge, die nun kommen - Valberg, Col de la Couillole und Col St. Martin - mit der schlichten Freude am Radfahren in Einklang zu bringen, auch wenn sich der eine oder andere morbide Gedanke bereits mit der Zielankunft befasst.
In Saint-Martin-Vésubie, der vorletzten Kontrolle bei Kilometer 783, liegt ein Hauch von Müßiggang in der Luft, Kuchen, Pizzastücke, Kaffee, Cola, Panaché, alles was auf den weißverzierten Cafétischen Platz findet, bereitet mir und den anderen, die sich mit mir ihres großartigen Daseins erfreuen, Freude und Sättigung. Nach 300 Kilometern Alleinfahrt mischen sich bei der Weiterfahrt ins Tal des Var wieder gesprochene Wörter zwischen die nachmittäglichen Gesänge der Naben, zwischen das Klicken der Schaltungen und das Rauschen des Windes, der uns vom Tal hoch ins Gesicht bläst. Seite an Seite mit meinem neuen Begleiter aus der Dresdner Ecke erlebe ich einen weiteren pittoresken Streckenabschnitt zwischen dem Vartal und Gréolières, wo wir vor der dritten Nacht eine neuerliche Rast in einem vorzüglichen Restaurant, La Barricade, einlegen. Nicht lange nach uns trifft die Berliner Ballerina ein. Der Tanzschritt wirkt heute Abend schwerer als am gestrigen Tag.
Uns bleiben 150 Kilometer und fünfzehn Stunden bis zum Zielschluss - ein Wimpernschlag angesichts der Unendlichkeit der Milchstraße über uns. In aller Ruhe würden wir uns zurück zum Ursprung der Reise leiten lassen. Der Dresdner jedoch zieht kraftvollen Trittes von dannen. Gemeinsam mit einem anderen Breisgauer begebe ich mich auf den letzten Abschnitt. Wir erreichen Castellane, befinden uns plötzlich wieder in der Gesellschaft eines Holländers und eines Italieners, der, wie er mir versichert, auf Brevets grundsätzlich nicht schlafe. Dieser Mann, immerhin, könnte ein echtes Vorbild sein und jeder Manager, der etwas auf sich hält, sollte sein Porträt über dem Schreibtisch hängen haben. Angesichts der vorgerückten Stunde befindet sich die Kaffeemaschine in der Kneipe unserer Wahl bereits außer Betrieb, wir nehmen mit Schwarztee Vorlieb. Im Zentrum ist die Jugend noch kräftig am Feiern und ich stelle mir das Gejohle vor, welches wohl in Kürze einsetzen wird, wenn unsere radfahrende Ballerina Castellane erreichen wird.
Kühle Herbstluft durchströmt die Gorges du Verdon. Schlafwandlerisch gleiten wir entlang der Felswände: Leuchtpunkte im Schwarz der fortschreitenden Nacht und bereits im Verglühen begriffen. Palud-sur-Verdon - letzter Kontrollpunkt - erreiche ich als Erster und bekomme geradezu dämonische Lust, mich noch für ein halbes Stündchen abzulegen. Nach dem Erwachen fehlt von meinen letzten Begleitern jede Spur. Ich folge meinem Weg wieder alleine, lasse mich den Verdon entlang ins Tal gleiten, bereise das Ufer des Lac Sainte Croix, wo von weit her Trunkenbolde in die Nacht hinein brüllen, und winde mich die überraschenden Anstiege nach Aups hoch. Dann kommen die allerletzen Kilometer hinunter nach Carcès, und meine Freude strömt hinaus in die Nacht, strömt voraus bis in die Mehrzweckhalle, wo auch ich kurz darauf eintreffe.
Der Mann im Tutu verpasst den Kontrollschluss. Die dritte Nacht hat ihm übel mitgespielt. In Castellane wird bei seiner späten Durchfahrt wohl niemand mehr gejohlt haben. Das ist sehr bedauerlich. Die Herzen sind ihm entlang des Weges dennoch zugeflogen und vermutlich hat ihn niemand des subversiven Umtriebs bezichtigt. Auch wurde er nicht aus einem fahrenden Auto heraus erschossen, wie es im Film Easy Rider passiert ist. Das wiederum ist sehr erfreulich und lässt den Schluss zu, dass bei der moralischen Erneuerung unserer Gesellschaft nichts überstürzt werden muss.
Strecke: |
1009 km |
Höhendifferenz (gemessen): |
16250 hm |
Fahrzeit: |
49:32 h |
Schnitt: |
20,4 km/h |
Gesamtzeit: |
69:00 h |