Samstag, 09.September 2006
Alles deutete auf eine perfekte Tour hin: ein kurzes Rundmail am Mittwoch abend, und schon hatte ich zwei an der Angel, die am Samstag mit mir ins Jura fahren wollten: Urban, der alte Langstreckenkämpe, und, zum ersten Mal auf der Langstrecke, der Stutz vom Schauinsland. Die Wetterprognose war so gut wie seit vielen Wochen nicht mehr. Nicht zu unterschätzen war auch der Zeitpunkt: zwei Tage nach Vollmond. Ein kleiner Wehrmutstropfen war, dass ich Samstag früh noch meine Brötchen verdienen musste, aber mit einem anständigen Mittagschlaf bis vier Uhr nachmittags lässt sich dem abhelfen.
So treffen wir uns in voller Randonneursmontur um 17.15 Uhr in Freiburg, Kaiser-Joseph-Brücke. Lenkerbeutel, Satteltasche oder Rucksack, Lichter vorne, Reflektoren, Stirnlampen und Rücklichter im Gepäck. Und los geht's!
Die Tour entspricht dem 400 km-Brevet ins Jura, wie ich sie 2003 als Qualifikation für PBP gefahren bin, zuzüglich der An- und Rückfahrt nach Mulhouse. Das hat den großen Vorteil, dass der Streckenplan ohne große Vorbereitung steht. Eine Strecke von ca. 500 km zusammenzufieseln wäre andernfalls äußerst zeitraubend geworden.
Es läuft hervorragend, der Wind, der tagsüber noch böig war, hat nachgelassen. Ich freue mich riesig, dass unser Dreiergespann so rollt, und freue mich, überhaupt unterwegs zu sein. Der August war kalt und nass, der Juli brütend heiß, heute ist alles optimal. Wir nehmen die Straßen abseits der B3, über Mengen, Biengen, Bremgarten, Neuenburg. Die Grenze. Wunderbar! Von Ottmarsheim nehmen wir den Radweg durch den Wald, stoßen bei Rixheim auf die Originalstrecke des Brevets. Knapp 60 km zeigt mein Tacho bis dahin. Der Weg aus Mulhouse ist wie immer beschwerlich, zumal im Feierabendverkehr, aber schon 10 km später sind wir ins Hinterland eingetaucht. Vage erinnere ich mich an den Streckenverlauf. Das Sundgau ist eine sehr beschauliche Gegend mit viel sattem Grün ringsum, mit Hügeln, an denen man sich fürs Jura warmfahren kann. Wir bewegen uns auf kleinen Straßen mit wenig Verkehrsaufkommen. Die Abendsonne lässt unsere verschwitzten Gesichter leuchten. Wir fahren ihr entgegen - Romantik pur. Dann der Mond, rund und hell: Romantik, veredelt.
Bei Kilometer 100 etwa, an der Grenze zum Jura, machen wir uns fertig für die Nacht. Ein Passant bietet uns seinen beleuchteten Garten hierfür an, fragt uns nebenbei nach unserem Ziel und scheint nicht sehr überrascht über unser Vorhaben. Vielleicht ist er selbst schon Brevets gefahren. Ganz anders ein Kneipenwirt in Delle, dem nächsten und vorerst letzten Städtchen, das auf unserer Strecke liegt. Er rät uns, nachdem er mit professionellem Schwung unsere Trinkflaschen aufgefüllt hat, mehrmals zum Nächtigen beim örtlichen Campingplatz und will nicht wahrhaben, dass es uns trotz der Dunkelheit weiterzieht in die Berge des Jura in Richtung Pontarlier.
Die Berge lassen nicht auf sich warten. Es sind keine Giganten, die sich vor uns aufstellen, aber doch Erhebungen, die es in sich haben. Der Col de la Douleur, gleichmäßig ansteigend, bringt uns auf 793 m hoch. Während der Abfahrt passieren wir in Chamesol ein offenes Café mit einer Handvoll Gäste auf der Terrasse, die uns aufmuntern: Courage, courage! Die Gelegenheit für einen Stopp, ehe die letzten Cafés ihre Rollladen herunterlassen. Auf der Terrasse begegnen sich zwei Welter: drei Radfahrer, berauscht von der Abfahrt und der Größe ihres Vorhabens, am Nebentisch zwei junge Männer, berauscht von dem Inhalt der vielen leeren Flaschen auf ihrem Tisch, müde; ein Tisch weiter ein Mädchen vor ihrem Bier. Wartet sie darauf, abgeschleppt zu werden, oder ist die Langeweile hier vielleicht noch das kleinere Übel? Der Patron bringt trotz erheblicher Gleichgewichtsstörungen noch einen Kaffee zustande und so ist alles bestens, als wir unter großem Hallo wieder in der Nacht verschwinden.
In St. Hippolyte feuern uns übermütige Jugendliche an, ebenso in Maîche, deutlich nach Mitternacht, nach einer acht Kilometer langen Auffahrt. Allerhand Amüsiervolk ist hier noch unterwegs, jeder genießt die warme Spätsommernacht. Am Ortsausgang machen wir Rast, ein Auto hält und der Beifahrer fragt aus dem offenen Fenster, ob es nicht viel Mut braucht, zu dieser Stunde noch mit dem Rad unterwegs zu sein. Was soll man da antworten? Braucht man wirklich Mut dazu? Ich entgegne der Einfachheit halber: c'est amusant! - uns macht's Spaß. Langsam sehnen wir uns danach, dass wieder Ruhe einkehrt auf den Straßen.
Maîche war die Pflicht, 170 Kilometer sind wir bis jetzt gefahren, bei angenehmen Temperaturen. Nun kommt die Kür. Wir folgen der gut ausgebauten, zart gewellten D 437 durch die Hochebene. Wir kommen weiterhin gut voran. 25 Kilometer später, in der Abfahrt nach Fuans beginnt der Nebel, die Temperaturen sinken. Wir fahren durch Orchamps-Vennes, zu dieser Stunde ausgestorben, durch Longemaison und St. Gorgon-Main. Noch 14 Kilometer bis Pontarlier, dem Wendepunkt. Noch einmal geht es hoch auf 806 Meter über NN, nur wenig darunter liegt alles im feuchten Nebel. Es macht wenig Sinn, hier zu nächtigen, also fahren wir weiter bis Pontarlier, das nebelfrei unter uns auftaucht.
Drei Uhr morgens. Die erste Gelegenheit nützen wir für ein Nachtlager: eine Käserei, die mit einem großen Schild für ihr Produkt wirbt: Comté. Unter ihrem Vordach rollen wir unsere Schlafsäcke auf hartem Steinboden aus, ich stecke das Fußende in einen Plastiksack, stopfe meine Regenjacke unter die Hüftknochen, bilde aus einem Trikot ein Kopfkissen für mein müdes Haupt. Im Halbschlaf sitze ich wieder auf dem Rad und diesmal zieht die Straße ohne mein Zutun unter mir durch. Wieder und wieder, endlos.