22. August 2020
| Strecke |
Als ich morgens erwache, fällt Regen auf mein Zelt. Etwas unwillig schäle ich mich aus dem Schlafsack. Ich beschließe, meinen Kaffee an der Rezeption zu bestellen und unter den großen Sonnenschirmen zu frühstücken. Es ist erstaunlich kühl und ich möchte mich partout nicht zur Eile antreiben. Im Nieselregen packe ich dann schließlich zusammen und mache mich, später als geplant, auf zur nächsten Etappe, zu den nächsten großen Namen inmitten dieser gigantischen Wildnis von Fels, Geröll und fragiler Flora – einer Flora, die gerade so geduldet wird, wie mir scheint, aufgrund geheimer Absprachen, die in diesen Höhen mit den Naturgewalten getroffen werden.
Der Col des Aravis ist mir ein alter Bekannter – der erste Alpenpass meines Lebens, vor weit über zwei Jahrzehnten. Kaum habe ich La Clusaz und die letzten Regentropfen des Morgens hinter mir, beginne ich, das Band der Freundschaft neu zu knüpfen. Die Erregung des ersten Mals will sich nicht mehr einstellen, das Getriebensein, die Ungeduld. Doch noch immer spüre ich eine wohlige Intensität – der Respekt ist geblieben.
Bei einem kurzen Halt für ein Foto, noch ein gutes Stück unterhalb, überholt mich ein etwa Dreißigjähriger auf seinem Rennrad, ebenfalls mit einer Bikepacking-Tasche am Rad. Die ersten Sätze reden wir französisch, bis wir feststellen, dass unser beider Muttersprache Deutsch ist, auch wenn er nun seit längerer Zeit in Grenoble wohnt, wo er an seiner Promotion arbeitet. Wir teilen uns den Aufstieg und die Ankunft auf der Passhöhe unter der sich allmählich lichter werdenden Wolkendecke. Es ist seine erste Tour mit dem Rennrad über die Alpen.
In der Abfahrt verliere ich ihn in den oberen Serpentinen, erst in Flumet, als ich mich schon im steilen Gegenanstieg zum Col des Saisies befinde, sehe ich ihn unter mir durchs Stadttor fahren. Ich beschließe, auf ihn zu warten. Es ist eine Entscheidung, die spontan kommt, aber nicht selbstverständlich ist. Dieses Dahintreiben im Rhythmus der Gedanken und Anhalten, wo immer mich die Anwandlung dazu überkommt, ist ein hohes Gut bei allen Reisen mit dem Rad – gehen wir nicht im Alltag bereits genügend Kompromisse ein?
Kurz darauf trennen wir uns bereits wieder. Statt dem klassischen Aufstieg habe ich eine alternative Route über Crest Volant geplant, aus reiner Neugier. Wir verabreden uns für 12 Uhr am Gipfel, mit der Option, dass jeder auch weiterfährt, wenn der andere nicht zeitnah eintrifft. Die Strecke, die ich gewählt habe, ist ruhig und lohnenswert, trotz einiger zusätzlicher Höhenmeter. An dem Punkt, wo ich wieder auf die Hauptstraße stoße, zwei Kilometer vor der Passhöhe, treffen wir in derselben Sekunde wieder aufeinander. Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, ist die Freude gegenseitig.
Wir gehen gemeinsam einkaufen in Saisies und vespern eine Viertelstunde später gemeinsam und stellen fest, dass wir auch am Nachmittag den gleichen Weg haben: Beaufort, Col du Cormet de Roseland, Bourg-Saint-Maurice. Es werden kurzweilige Stunden inmitten packender Landschaften. Der grandiose Anblick des Lac de Roseland unter der Sommersonne legt sich wie Balsam auf die Seele des Rastlosen – das Gefäß in meinem Inneren, in das die Glücksmomente tropfen wie Honig, droht überzulaufen.
Kurz darauf, während wir in einer Bar am Wegesrand einkehren, stoßen zwei Freunde meines Begleiters zu uns – sie hatten sich grob für diesen Streckenabschnitt verabredet, um gemeinsam in Richtung Nizza weiterzufahren. Es sind lustige, lebensfrohe Gesellen, mehr Kletterer als Radfahrer, aber voller Leidenschaft und wie freche Lausbuben stürmen sie trotz ihrer übervollen Gepäcktaschen hoch zum Col de Cormet de Roseland, wo sie lachend und prustend von ihren schweren Rädern steigen.
In Bourg-Saint-Maurice trennen sich unsere Wege. Den Vorschlag, gemeinsam ein Bier zu trinken, muss ich angesichts meines noch ausstehenden Tagespensums ausschlagen, nicht ohne Bedauern.
Dank meiner diesmal gründlichen Vorbereitung schaffe ich es, die übel beleumdete Nationalstraße N90 zwischen Bourg und Moûtiers komplett zu umfahren. Die zahlreichen Höhenmeter, die mir diese Alternative einbringt, nehme ich wohl oder übel in Kauf. Jedoch nicht die Höhenmeter, die mich in Notre-Dame-du-Pré vom Campingplatz trennen, den ich auf dem Navi ganz dicht daneben eingezeichnet sehe: vier- oder fünfhundert Extrahöhenmeter, wie ich nun erkennen muss. So abseits kann er nur für Kletterer in Frage kommen, aber nicht für mich. Was es nach 120 Kilometern und fast 3500 Höhenmetern in der Sonne an Körperpflege braucht, erledige ich im Großen und Ganzen am dortigen Dorfbrunnen. Dann suche ich mir einen Forstweg abseits der Hauptstraße, räume etwas getrockneten Dung des Weideviehs beiseite und nehme meinen Kocher in Betrieb fürs Abendessen. Auf dem Weg hierher, in Macot-la-Plagne, hatte ich noch das große Glück, mir in einem kleinen Lebensmittelladen alles Nötige zu besorgen.
Tief unten, zu meinen Füßen, liegt das Tal der Isère, gegenüber ein Bergmassiv, dessen Namen ich nicht kenne, und darüber die Abendsonne, die sich in geübtem Schwung aufs Freundlichste von mir verabschiedet.