21. August 2020
| Strecke |
Sie kommt mir fast wie ein Fingerschnippen vor, diese morgendliche Bahnreise von Freiburg nach Genf. Kaum dass man – noch zuhause – gefrühstückt hat, steigt man, wenn auch mit einer Viertelstunde Verspätung, in Genf schon wieder aus dem Zug. Dort könnte man sich, genügend Reisebudget vorausgesetzt, ein paar erholsame Tage am Seeufer mit Alpenblick gönnen. Es muss schön und gleichzeitig aufregend sein, sich in der Nähe der großen Namen aus Show- und Finanzwelt zu wissen.
Die großen Namen, die mich zu dieser Reise inspirierten, haben damit jedoch wenig zu tun. Wie Sternbilder schweben sie zeitlos über dem Radfahrerhimmel und verlangen danach, ihnen von Zeit zu Zeit Referenz zu erweisen. Fangen wir mit dem Col de la Colombière an.
Kurz nach elf Uhr vormittags lasse ich den Bahnhof in Genf hinter mir und stoße auf dem Pont du Mont-Blanc zum ersten Mal auf die Schilder der Veloroute Genf-Mont Blanc. Dutzende von freundlich dreinblickenden Alltagsradler teilen sich zunächst die Strecke mit mir, in Annemasse, dem französischen Teil der Stadt, werden es weniger und weniger und schließlich bin ich allein auf meinem Weg ins Gebirge.
Ich habe vier Tage Zeit und möchte sie mir so einteilen, dass ich abends zeitig auf dem Campingplatz eintreffe und in Ruhe den Tag ausklingen lassen kann. Keine Exzesse. Dieses Ziel wäre am einfachsten zu erreichen gewesen, wenn ich von Bonneville direkt den Aufstieg zum Col des Aravis gewählt hätte, eine Strecke, die mir wegen des bekannt hohen Verkehrsaufkommen nicht zusagt. So folge ich nach Bonneville dem Auf und Ab der ausgewiesenen Radroute, die sich die Arve entlangschlängelt und wohl in Chamonix enden wird. In Vougy ist dann schließlich die Zeit gekommen, nach Süden abzubiegen und den Col de la Colombière in Angriff zu nehmen.
Der Colombière ist ein ruhiger Einstieg in die Alpen mit nur wenig Durchgangsverkehr. Die Steigungen allerdings sind sehr unregelmäßig mit zum Teil heftigen Rampen und ein richtiger Rhythmus will sich nicht einstellen. Es stört mich nicht im Geringsten – das Pedalieren zwischen den sonnenbeschienenen Bergflanken ist Freude pur. Hinter einer Kehre oberhalb von Le Reposoir sehe ich im Schatten eine sehr aufrechte alte Frau mit ihrer Gabel das Heu wenden. Genf ist sehr weit weg – auch die Bahnfahrt hinter den großen Fenstern, wo mir nur hinauszustarren bleibt auf die vorbeiziehenden Landschaften: kein Schweiß, kein Pochen in der Brust, kein Lufthauch, der die Perlen auf der Stirn trocknet.
Ein paar Rennradfahrer kommen mir grüßend entgegen, ansonsten bin ich für mich: ein Punkt in der Landschaft, der sich allmählich nach oben bewegt.
Als ich die Passhöhe erreiche, herrscht überraschend lebhafter Betrieb. Auf der Terrasse der Kneipe setzt sich eine junge Familie mit ihren beiden störrischen Kindern neben mich. Ich verfolge die Szenerie und die Verzweiflung der Eltern und immer wenn sich unsere Blicke kreuzen, schmunzeln wir uns gegenseitig zu.
Le Grand Bornand, einer der bekannteren Skiorte in dieser Gegend, fliegt in der Abfahrt an mir vorbei, ehe die letzten hundert Meter Anstieg nach Saint-Jean-de-Sixt folgen. Am Ortseingang biege ich in Richtung Campingplatz ab. Dann sehe ich jedoch acht oder zehn kleine Zelte dicht gedrängt auf der Wiese stehen und ich male mir ein Schreckensszenario aus: Ferienlager von Halbwüchsigen – ein Abend mit Geschrei und Gezeter... Ich beschließe, nach La Clusaz weiterzufahren, um auf dem dortigen Campingplatz mein Zelt aufzubauen. Sechs Kilometer weiter und 150 Höhenmeter höher muss ich erfahren, dass dieser Platz komplett ausgebucht ist.
Als ich ein zweites Mal auf dem Zeltplatz in Saint-Jean-de-Sixt ankomme, bin ich erleichtert, dass ich hier noch willkommen bin. Auch toben keine lärmenden Schulkinder um mein Zelt. Wo ich diese vermutet haben, sitzen am Abend Kletterer beisammen und tauschen sich mutmaßlich über die Schwierigkeitsgrade ihrer Routen aus. Meine direkten Zeltnachbarn haben ihre Mountainbikes auf dem Auto festgeschnallt und es dauert nicht lange, bis auch wir in groben Skizzen unsere heutigen Erlebnisse zum Besten geben.