Freiburg, 18. Juli 2009, 5.00 Uhr | Audax Freiburg: 400 Kilometer
Irgendwas stimmt nicht mit diesem Sommer. Mag sein, dass die große Allgemeinheit einem verheerenden Diätwahn verfallen ist, der sie davon abhält, ihre Teller leerzuessen. Und wenn man seinen Teller nicht leer isst, das wusste schon meine Großmutter, wird das Wetter schlecht. Eine dieser Unsitte gänzlich unverdächtige Spezies sind die Langstreckenfahrer. Wer einmal erlebt hat, wenn fünfzehn Randonneure morgens um sieben in eine Bäckerei einfallen, weiß, dass sie unmöglich für den wochenlangen Regen des Sommers 2009 verantwortlich sein können. Das Bild, das sich am 18. Juli in Bräunlingen im Schwarzwald bietet, könnte sich so genauso gut überall sonst auf der Welt bieten, wo Randonneure unterwegs sind: halb leergefressene Auslagen und eine schweißgetränkte, wenngleich überaus freundliche Bedienung, die wohl drei Kreuze schlägt, wenn die Meute wieder auf ihren Rädern im Grau des Morgens verschwindet.
Bräunlingen liegt 50 Kilometer von Freiburg weg, kaum der Rede wert also, da noch 350 Kilometer folgen werden; aber weil bis Schaffhausen - gut zwei Stunden entfernt - nicht mehr mit einer Einkehrmöglichkeit zu rechnen ist, sorgt der kluge Mann vor: man muss auf Langstrecken essen, bevor der Hunger kommt; umso mehr, wenn die gefühlte Temperatur auf dem Thurner morgens um sechs Uhr nur knapp über dem Gefrierpunkt gelegen hat.
Schwarze Wolkenfelder jagen über die Hochfläche der Baar - wir könnten in Schottland sein: aber die Urlaubstimmung will sich nicht so recht einstellen. Eher noch später am Rheinfall, kurz nach zehn Uhr, wo die Busse ihre Touristen ausspucken, die in aller Eile ihre Fotos machen, um sich, so schnell es geht, wieder im Bus zu verkrümeln, denn mittlerweile hat ein Nieseln eingesetzt und die Szenerie am größten Wasserfall Europas wirkt recht trostlos. Wir zücken unsere Stullen aus den Taschen und reisen weiter.
Die Nationalstraße 13 folgt dem Schweizer Bodenseeufer bis nach Konstanz. Es bleibt flach, und die 50 Kilometer bei Rückenwind sind fast ein Kinderspiel, während Konstanz selbst die Nervosität einer Stadt ausstrahlt, die in Kürze vom Regen in den See geschwemmt zu werden droht. Die Bäckerei am Bahnhof ist brechend voll, und obwohl wir mitten im Hochsommer stehen, haben Heißgetränke Hochkonjunktur.
Richtig ernst mit dem angekündigten Regen wird es auf dem Bodanrücken. Es platscht und spritzt wie in einem überfüllten Plantschbecken. Besser ist, mit geschlossenem Mund zu fahren, will man nicht zuviel von der Soße des Vordermanns verschlucken. Zudem faucht sonst der Gegenwind durchs Gebiss. Vielleicht sehnt man sich im Zuge der allgemeinen Verweichlichung bisweilen nach dem warmen Ofen zuhause - aber: warum sollten wir unser Abenteuer nicht bis zur Neige auskosten?
Natürlich geht auch diese Episode vorüber, das Wetter wird freundlicher, der Fahrtwind bläst die Feuchtigkeit aus der Klamotte. Unser nächstes Ziel ist Beuron im Donautal: Halbzeit bei Kilometer 225. Wir sitzen auf einer Caféterrasse bei Kaffee, Kuchen, Apfelstrudel, Cola. Kurz will es scheinen, als käme die Sonne durch. Es erweist sich als eine Fata Morgana.
Die rund fünfzehn Randonneure, die sich heute früh gemeinsam auf den Weg gemacht haben, verteilen sich in mutmaßlich kleinen Gruppen über die einsamen Landschaften des Hegaus, des Donautals, des Bäratals. Allenthalben bilden sich Teiche auf den Wiesen - das viele Regenwasser findet keinen Abfluss mehr. Unsere Gruppe hält auf Norden zu, rollt von Höhenzug zu Höhenzug. Die Beine haben ihren Rhythmus gefunden, die Sinne genießen. Die Freuden, die uns das Wetter versagt, müssen eben aus dem Inneren kommen: jeder Sonnenstrahl, der zwischen den Wolken aufblitzt, ist wie eine Verheißung.
Wir essen in Balingen, als die Abendsonne durchbricht, wir essen in Freudenstadt, als sich die Dämmerung über die Stadt legt. Ein Brevet ist nichts anderes als Fahren, Essen, Trinken, Leiden, Genießen. Noch in Freudenstadt tauchen die ersten Sterne am Nachthimmel auf. Unsere Scheinwerfer schneiden sich ihren kleinen Teil aus der unendlichen Welt der Dunkelheit heraus - wir jagen zwanzig kühle Kilometer entlang der Wolfach in tiefere Lagen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie in längst vergangenen Zeiten das Geheul der Wölfe zu dieser späten Stunde die Menschen vor Furcht erstarren ließ.
Es ist Mitternacht. Der Anstieg hoch zum Landwassereck ist eine letzte Prüfung, ein hartes Ringen mit der Schwerkraft. Der Lohn ist ein erhabener Ausblick auf den Sternhimmel von der Passhöhe aus. Für ein paar Minuten wird, vierzig Kilometer vor dem Ziel, das Ankommen völlig unwichtig.
Zurück in Freiburg treffen wir in einer der letzten noch geöffneten Gaststätten auf die kleine Gruppe vor uns. Ihr Vorsprung beträgt ein, höchstens zwei Bier. Das lässt sich aufholen. Dass draußen der Regen wieder einsetzt, ist nicht verwunderlich: in Freudenstadt musste ich mitansehen, wie einer der Mitfahrer ein Stück Pizza auf dem Teller übriggelassen hat. Auch Randonneure kennen Momente der Schwäche.
Strecke |
410 km |
Höhendifferenz |
4370 m |
Fahrzeit |
15:17 h |
Schnitt |
26,8 km/h |
Gesamtzeit |
21:00 h |